Binnenvorwort Maesgeirchen I
Zwei Ahnungslose brechen zu einer Forschungsreise auf, von der sie glauben, es sei nur ein einmaliges Abenteuer. Entsprungen einer ideé fix: Einer der Ahnungslosen ist dichterisch tätig und will ein Publikum finden. Und zwar ein Maesgeirchen, der sich wie alle anderen Stadtteile Bangors, Wales und Großbritanniens im Lockdown befindet. Mit dem Auto fahren die zwei Ahnungslosen in den Stadtteil hinein, der dichterische Beifahrer ruft mit dem Megaphon aus dem offenen Seitenfenster Gedichte in die Straßen. Nach einiger Zeit und einigen Begegnungen mit dem Publikum, das keines ist, besucht man zu zweit eine Freundin des dichterischen Megaphons. Diese wird in der Tradition des „Fensterln“ geminnesangt. Die Ahnungslosen werden erhört und erhalten im Garten abständigen Tee.
Maesgeirchen I
Maesgeirchen ist eine Sozialbausiedlung an der Stadtgrenze von Bangor, von dem Stadtkern Bangors durch den Bangor Mountain getrennt und zugleich die Stadt und seinen Berg vom Krematorium weit außerhalb der Stadt trennend. In den 1930ern als architektonische Utopie einer Gemeinschaft freistehender Einfamilienhäuser für Arbeiter geplant, ist Maesgeirchen heute eine Sackgasse, übermauert mit Wohnsilos, 2003 restauriert und doch schon wieder alt, vom Schimmel innerlich zersetzt, Wohnungen wie Bewohner. Soziale Sackgasse. Das weiß auch Maesgeirchens Topographie. Nur eine Straße führt hinein, und nur eine – dieselbe – wieder hinaus. Ist man also erst einmal in Maesgeirchen, zeigt sich einem nur eine Exitstrategie, aber unzählige Sackgassen ohne Wendekreis. Oder man gerät auf eine der Straßen, die im Kreise führen, im Kreis, nicht im Vortex.
In pandemischen Zeiten zeigt sich die abgeschlossene Einheit Maesgeirchen noch kristalliner. Nur findet sich auch wegen der Ausgangssperre kaum jemand, der vom Innen der Stadt von dem, was da draußen zu ihnen herüberstrahlt, berichten könnte. Abenteurer bräuchte ein solches Unternehmen, waghalsige Forscher, die nichts zu verlieren haben…
Wir zogen also aus, um 4.000 Isolierten in der Isolation beiläufig aus der automobilen Isolation mit der Frohen Botschaft der Kunst zu beschallen. Ihr Echo wäre uns Lot Maesgeirchens Ausstrahlung zu bemessen. Unsere Engelsstimmen durch Megaphon verstärkt, das Himmelsgefährt silbern von der Frühlingssonne gestreichelt und erwärmt seine alten Knochen. Der Himmel war auf unserer Seite, war es schon immer gewesen, denn wir, die wir von der anderen Seite kamen, waren einst der Seite, die wir nun zu erobern trachteten, entkommen. Zumindest ein Teil von uns - der Künstleranteil unserer Einheit, die wir im Übrigen als wortterroristische verstanden. Noch.
Zu vollem Fronteinsatz bereit zweifelten wir doch zugleich an der Frontlinie, die wir uns selbst zugewiesen hatten, wussten wir sie doch eigentlich als Peripherie und somit aller Frontalität entmachtet. Würde man uns willkommen heißen? Wir waren sicher, Barrikaden hatten wir nicht zu erwarten. Doch wollte uns wohl bang werden ums Herz, wollten unsere Gedanken die Peripherie zur Front machen, mauerhohe Barrikaden errichten, damit wir einst von der Galerie zurückblickend, von unserem heldenhaften Abenteuer werden berichten können. Ja, wir wussten es ohnehin: die Ursache liegt in der Zukunft.
Mehr flatternd also als fahrend drangen wir vor, erblickten schon bald mit bloßem Auge die ersten Umrisse der Siedlung, klar und deutlich. Die Sonne an diesem Fleck der Welt zu schwach, um dem Asphalt ein Luftschwirren abzuglühen, die Luft kalt und einzig vom Salz des Menai Straits durchtränkt, das in uns keinen Durst auslösen konnte, denn der Hunger nach Abenteuer war stärker. In Sekundenschnelle – dabei hielten wir uns an die Geschwindigkeitbeschränkung – hatten unsere wenigen Pferde den Anstieg nach Maesgeirchen erfahren.
Niemand auf den Straßen. Eine Geisterstadt? Oder versteckte man sich vor uns? War uns unser Ruf vorausgeeilt, entwickelte der Sog der Peripherie etwa eine Schwerkraft, die den Zeitstrom aufbricht? Hatte Maesgeirchen bereits die Botschaft unserer Megaphone erhört, die wir doch erst noch auszustoßen hatten? Wenn ja, befreite uns das Zeitparadoxon von unserem Auftrag, der ja der unsere war und doch begann, uns schwer im Magen zu liegen. Der Hunger war damit theoretisch bereits gesättigt, auch der Magen also vorausgeeilt, das Herz hingegen auf dem Anstieg zurückgeblieben. Erste Ratlosigkeit blitzte auf.
Doch da, ein menschliches Gesicht warf einen Schatten über unsere Unsicherheit, mehr Gestalten verdunkelten sie bald völlig. Man sprach von Publikum. Man näherte sich auf Distanz, intonierte lateinische Jamben, schließlich hatte man sich als Avantgarde zu verstehen und zu zeigen. Die Gesichter Maesgeirchens uns zugewandt. Doch lauschten auch ihre Ohren? Kein Echo und kein Lot. Das Megaphon tat sein Bestes, aber vielleicht war es zu viel des Guten und nur eine Flüstertüte könnte Maesgeirchen ein Lauschen entlocken. Erneute Zweifel. Unsere Messgeräte versagten, erfassten nur rosa Rauschen. Wer versuchte hier wem etwas zu entlocken?
Wir drehten ab, verließen die erste Sackgasse Maesgeirchens. An der Kreuzung ein bemanntes Gefährt, dem unseren in Größe und Besatzung überlegen, doch oder vielleicht deshalb eindeutig freundlich gesinnt. Wir änderten unsere Strategie. Statt Maesgeirchen unangekündigt mit der Botschaft, die selbstverständlich ihres frohen Mutes längst verlustig gegangen war, zu beschallen, wollten wir zunächst ersten Kontakt aufnehmen, ob Maesgeirchen denn ein Gedicht hören wolle. Es zahlte sich aus. Das Megaphon tat seine Arbeit. Ein anerkennendes Nicken Maesgeirchens folge. Lot uns. Begeisterung bei uns. Naive Bereitschaft zum Wagnis beim Steuermann beschleunigte das Vordingen in die Sackgassen, immer mehr Maesgeirchen breitete sich vor uns aus. Doch erste Anzeichen – die wir erst im Rückblick als solche erkennen –, dass die Wortkunst hier nicht kann wie sie will, stellten sich ein. Unsere Messgeräte warnten vor abweisenden Gesten – bei allen Altersgruppen und Geschlechtern. Einzig das weibliche Geschlecht vor und nach der Geschlechtsreife öffnete der Poesie Beine und Ohren. Ein Höhepunkt der Reise. Und je tiefer wir in die Höhen Maesgeirchens eindrangen, desto beglückender schienen unsere Begegnungen.
Der Sauerstoffmangel ließ uns Gipfelstürmer übermütig werden, man entschloss, ins Tal zurückzukehren und einen erneuten Vorstoß in den Tiefen zu wagen. Wer hätte geahnt, dass wir dort auf das Geheimnis stoßen, das zu finden wir nicht auf die Suche gegangen waren? Uns, die als Frontkämpfer der Kunst angetreten waren, erschien der wahre Frontkämpfer der Isolation. Dieser verkannte uns zunächst als Feind. Zurecht! Waren unsere Megaphone nicht Schofaren gleich, die die Mauern Maesgeirchens, die wir selbst errichtet hatten, aufzubrechen trachteten? Doch Rückzug kam nicht in Frage und so blieb nur: Kapitulation, Enttarnung, Sich-Nackt-Machen und der Gnade des Henkers übergeben. Doch nicht Henker war der Frontkämpfer, Totengräber war er, eine Hamlet‘sche Figur und uns also seelenverwandt. Vier Leichen hatte er auf seinen Schultern zum Feuer, das sie auf ewig verschlucken sollte, getragen, und trug sie doch noch mit nach Maesgeirchen. Wir begriffen schnell. Kaum größere Last wären da zwei weitere Leichen auf diesen Schultern, schon gar nicht, wenn es die unseren wären. Daher legten wir frei unsere Mission und erbaten gehört zu werden. Uns wurde das Wort gewährt, unsere Worte also entwaffnet. Was danach geschah, die Hitze der Vorhölle, die der Totengräber hinter sich hergezogen hatte, verschwirrte unsere Sinne und Messgeräte. Verlässliche Auskunft ist nicht zu geben.
Wir finden uns wieder, Halt vor einer weiteren Sackgasse. Wir, die ausgezogen waren, den Wortterror als Befreiung zu verkünden, waren durch den Tod von uns selbst befreit worden. Wir, die wir uns als mutige Beifahrer in die Isolation vorgefahren zu sein geglaubt hatten, waren uns selbst in dem Erfahrungsbericht des Totengräbers widerfahren. Die Frontlinie war nun klar. Maesgeirchen war schon immer das Zentrum gewesen, nie die Peripherie. Unser Halt eine Krise. War Maesgeirchen mit Wortterror beizukommen? Wo steht der Feind? Ließen sich Verbündete gewinnen?
Falsche Ritter aus verlorener Schlacht, waren wir zu schwach für die Heimkehr. Suche nach Erlösung, Ehrenrettung und Seelensalbung. Es trug uns wieder, schleppend, die Höhen Maesgeirchens hinauf, diesmal an den äußersten Rand. Man hatte sich einer Verbündeten erinnert und beschlossen sie zu befensterln. Minnesang statt Wortterror. Und ja, ein weiteres Wunder ereignete sich, fern des Zentrums und der Front: Dornröschen erhörte das kunstvolle Wehklagen, gewährte Einlass in den Tempel und setzte heilendes Gesöff an. Man wusste sich unter Freunden, entspannte. Mit ausreichend Vitamin C ausgestattet traten wir die Rückreise an und sahen, wie Maesgeirchen ein weiteres Mal seine Beine breitmachte, diesmal, um uns zu entlassen. Neugeboren. Weitere Perspektivverschiebungen werden also folgen.
Man ist immer ein Eindringling. Eitel kamen wir, eitel fahren wir. Wir waren gekommen, um Maesgeirchen den Worterror zu bringen und haben die Poesie Maesgeirchens gefunden. Man muss sich Fallen stellen und in die eigenen Fallen tappen, der Versuch als Versuchung. Wie Heidegger. Tödlich. Wir wurden verwundet und sind an uns selbst geheilt. An uns, in uns, durch uns.
Jetzt kommt die Zeit der Verklärung.
18.4.2020
Binnenvorwort Maesgeirchen II
Ehemals Ahnungslose beginnen zu ahnen, dass das Abenteuer eine Forschungsreise werden könnte. Damit stellt sich die Frage, wer die Forschenden und was das Zuerforschende und ob zwischen beidem überhaupt unterschieden werden könne. Die Tatsache, dass das Auto des dichterisch Ahnungslosen dem lokalen Pizzataxi in Modell, Farbe und Alter identisch ist, lässt die Ahnung aufkommen, dass man als Forschungsreisender weder sich noch mehr sicher sein kann. Dass das Andere immer auch die Wahrheit sein könnte, erwächst in diesem Text zur Gewissheit, indem alle Aufenthalte in Worten und Zuständen sich als nichtig erweisen. Das gilt nicht nur für die Texthaltung, sondern sollte auch für die Lesehaltung gelten.
Maesgeirchen II
Wo stehen wir nun? Wohin soll es gehen, ausgeworfen aus Maesgeirchen? Gelehrt haben wir wenig, gelernt umso mehr. Einzig in der Peripherie Maesgeirchens konnte unsere Poesie Leben wecken, im Zentrum aber stieß jedes noch so vulgäre Gedicht nirgends an, sondern uns nur ab. Einzig dort trafen wir aufglühend erwartungsvolle Gesichter, wo unser wackerer Suzuki Alto und damit auch wir verwechselt wurden. Man sah in uns den Pizza-Service und wahren Terror lösten wir nur aus, wenn statt geschmolzener Käse und Aioli die derben Düfte die Nasenflügel der unengelhaften Maesgerichener Jugend infiltrierte. Gierig war sie, aber doch nach dem Falschen, das wir als das Richtige glaubten und doch schon bezweifelten. Wir tun es noch. Erfüllt sind wir mit einer Sehnsucht, die wir vorher nicht kannten. Denn auch wir wollen uns verwechseln, vor allem uns verlernen, uns selber und auch Maesgeirchen. Doch wie wäre das möglich?
Damit fühlen wir uns bereits als andere, uns selbst bald ebenso fremd und vulgär wie uns einst Maesgeirchen.
Doch vielleicht sind wir gar nicht verwechselt, sondern erkannt worden? Verspürten wir nicht schon immer den Ruf Italiens ins uns? Doch zu sehr schallt ins uns noch der Ruf der Kunst, die es nicht erlaubt, als Fremdenlegionär einem anderen Herrn zu dienen. Wir beugen uns nur zu willentlich, denn auf Abruf wollen wir nicht leben, nicht auf Bestellung produzieren. Wir sind der Zuruf, der die Kunst anruft und versammelt. Dennoch, die Verwechslung war nur eine Verwechslung mit einer Verwechslung, denn wenn auch nicht erkannt, so hatte man uns doch auch nicht verkannt. Denn Zubringer waren wir, als Zubringer verstehen wir uns auch jetzt noch. Dem Eiswagen gleich, der mit seinem Greensleeves-Jingle die Kinder aus der häuslichen Gewalt in die elisabethanische Realität lockt, jedes Eis ein Wunder. Vielleicht wäre das unser neuer Weg? Rückzug auf eine Tradition, die es zu zerstören galt, die süßen Massen wie Sirenen auf falsche Fährten verführen und in unserer Poesie untergehen lassen? Doch woher einen Eiswagen?
Die Hitze des Krematoriums legt sich als Asche in unsere Gedanken nieder, die Kälte hält Einzug, erfrischt den Geist. So soll es sein. So wollen wir umsuchen die Isolation im falschen Zentrum Bangors. Fern der Frontlinie wollen wir den Bangoresen überzuckern. Der elisabethanischen Melodie, in der er seine warme Heimat glaubt, wird er sich uns offenbaren, denn unterzuckert ist das Leben der Isolation. Aller Sinne verlustig werden sie sich mit uns in Poesie verschmelzen. Erneute Hoffnung auf Verwandlung treibt ein Wind durch die Asche. Staub bewegt die Seele. Wir meinen sie zu spüren. Der Winter ist vorbei. Wir schauen voraus und ahnen unsereins in der Ferne zu erblicken. Wenn wir das dort sind, dann kann es Erkenntnis geben. Welch ein Gedanke! Nun muss die Tat folgen!
20.4.2020
Binnenvorwort Normal Site I
Die einstmals komplett Ahnungslosen verabreden sich an einem Campus der Universität zu einem Spaziergang. Forschungsaktivitäten sind eigentlich nicht gewollt, denn man ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wer von Ihnen, liebe Leser, die Selbstbeschau nicht mag, der suche in diesem vermeintlichen Seelenspiegeltext die Bravo Foto-Love-Story. Hier passiert also vor allem Zwischenmenschliches. Das wird auf die Natur und die Location neudeutsch übertragen. Sehr aufmerksame Leser können den Textverläufen außerdem in Richtung einer Kunsttheorie verfolgen. Das sollte vor allem bei der Lektüre noch späterer Texte helfen. Es sei den Lesern hier ans Herz gelegt, sich mit diesem Text auf die Autonomie des Textes einzulassen. Das heißt auch, sich ihm zu erwehren. Sie dürfen auch gegen den Strom schwimmen. Der Strom, der bereits in diesem Text ein Auftreten hat, und auch in vielen folgenden, ist der Menai Strait eine Meerenge der Irischen See zwischen dem Festland Gwynedd und der Insel Anglesey. Immer eine Reise wert. Kurze Zwischenprüfungsfrage: Wie heißt der Strom, der bereits mit dem Vorwort seinen Auftritt hatte? Die Lösung wird ihnen Lektüreschlüssel sein. Wir hoffen also, Sie liegen mit Ihrer Antwort falsch.
Normal Site I
Wie stark waren unsere Worte, wie schwach unsere Taten. Wie schnell kommen die Ideen, wie langsam folgt ihnen der Leib. Flüchtig ist der Geist, vor allem flieht er vor sich selbst doch entkommt sich nicht, findet er nicht seinen Körper, der ihn übersetzt in die Entäußerung seiner selbst. Kurz, wir sind uns doch ferner als anfangs gedacht und so mussten die Taten warten. Die letzte Woche Totenstarre der Gedanken als wäre der Winter zurückgekehrt, dabei strahlendes Frühlingswetter. Durchaus auch Unruhepuls am eigenen Leib zu beobachten, doch der Geist geflohen in die Ferne und noch nicht zurückgekehrt ins Abenteuerherz. Alle verbleibenden Kräfte kämpfen gegen die Enttäuschung, die wir uns selbst antun wollen. Eine Zukunft scheint nicht möglich. Auch die Welt kommt nicht auf einen zu, rührt sich nicht. Dornröschenschlaf.
Doch dann, Blick in die Vergangenheit mobilisiert alte Zuversichtskapazitäten. wir überleben auch diese Eisheiligen. Doch die einzigen Pläne scheinen keine Wirklichkeit mehr zu treffen. Unsere Vorstellungskraft also realiter machtlos, wir fühlen uns also arm und klein. Deutlich Krisenstimmung. Erneut. So hatten wir uns das nicht vorgestellt. Da erklimmt man einen Berg, waghalsig, beinahe schon Pioniere und natürlich erwartet man Gipfelgefühle. Jäh hingegen aber die Einsicht, dass die Erkenntnis in der Ferne nur der kurze Anfang ist, der Einblick in den Abgrund bald schon viel näher scheint und eben lange weilt. Der Unruhepuls nicht mehr der des Frühlings, sondern des von der hohen Sonne ausgestrahlte Abgrunds.
In dieser Stimmung scheint aller Auszug in die Welt zum Fürchten. Natürlich gestehen wir das dem anderen Gegenüber neben uns selbst nicht ein und so beschließt man einen Auszug. Welch glücklicher Zufall, dass die Welt, in die man dann auszog, selbst schon aus sich ausgezogen war. Man muss sich somit nicht begegnen. Denn was wir vorfanden, war nur Unbewohntes. Mensch, Tier und Gefährt einzig wir, außer uns nichts. Kunsthandeln undenkbar. Kein Tor wollte sich öffnen, die Fenster zeigten Seelenloses: Sentimentale Kühlschränke. Doch auch die drehten uns den Rücken zu. Was war hier geschehen? Oder ging es gar noch vor? Endlich, das Geheimnis, das der Winter in uns verlagert hatte, schien endlich wieder außer uns zu finden sein. Doch auch hier: so unzugänglich wie zuvor bei uns selbst. Schnell wird jeder Versuch, das Geheimnis im Unbewohnten zu erforschen, aufgegeben. Gespräch über eine Zukunft an einem anderen Ort, führt auf Abwege. Hier lauern Metaphern. Der Blick in ein tiefes Gewässer, das untief scheint. Zuviel Bepflanzung. Mittendrin zwei Enten. Versenken lässt sich darin nichts. Ohnehin, das Gold, das zu versenken wäre, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefunden. Trotzdem gibt der Boden bereits leicht nach. Die Abwege waren also bereits von vielen beschritten worden. Kein Neuland. Sind wir gar keine Abenteurer? Oder sind etwa auch die Anderen allesamt Abenteurer? Warum dann nicht auf ihren Pfaden trampeln. Immerhin, sie scheinen zugewachsen, und das Ziel verlangt neben Einsatz vor allem Glück. Zaghafte Skepsis gegenüber dem Ziel kommt auf, wird aber erschlagen.
Kaum hat man das Unheimelige hinter sich gelassen, folgt Schönheit auf Schönheit. Es gibt kein Entkommen. Ein Paradies, das man durch Gespräch zu ignorieren sucht, dabei gilt es doch erforscht zu werden! Doch vielleicht ahnen wir, das Paradies hat sich selbst erforscht und birgt keine Geheimnisse mehr. Seine Schönheit ist die sich zeigende Wahrheit, was wäre da noch zu suchen? Wir werden von der Schönehit heimgesucht, stoßen also nur auf Gefundenes. Man tritt den Rückzug an, geschlagen mit schönen Wunden, die im niedrigen Sonnenlicht der Tiefe mangeln, nur golden schmerzen. Uneinig in Leib und Geist finden wir nur zurück in den Wald und nicht zur Tat. Doch plötzlich, welch ein Glück, stehen wir mitten vor uns, Höhlenwand ohne Schatten, aber voller – so keimt die Hoffnung auf– Geheimnisse, Schmugglerware für den Schwarzmarkt, rar und daher unschätzbar wertvoll. Abenteuerlust kehrt zurück. Man teilt sich auf und macht sich auf die Suche. Ich will mich verlieren und finden, doch weiß ich mich längst verloren und weiß auch, finden will ich nicht mich. Und so suche ich nur halbherzig und weiß doch darin das Schicksal unserer heutigen Reise. Verrat! Verrat! Einmal dem Läuten des Herzens nicht nachgekommen, es ist nie wieder gutzumachen.
Doch Täuschung auch das. Halbherzig die Suche, halbherzig der Verrat. Ich kann den Bericht zuversichtlich schließen. Wir wissen, sonst hätte es ihn gar nicht gegeben. Die Erkenntnis verstärkt sich, egal welche Reise man antritt und in welchem Zustand, man entgegnet sich selbst.
27.4.2020
Binnenvorwort Normal Site II
Der Text lässt sich gehen und suggeriert damit, dass sich auch die offenbar wieder Ahnungslosen haben gehen lassen. Der Pathos, der sich bereits in den vorhergehenden Texten eingeschlichen hatte, bestimmt nun den Ton und die Referenzen. Der Text glaubt sich frei gelaufen zu haben, ist aber in diesem Pathos, den Sie und ich hoffentlich beiderseits als falsch empfinden, verfangen. Das passiert, wenn der Text zum Autor wird. Die Lektüre lohnt aber dennoch, weil bei aller Hybris wertvolle Informationen über die Location vermittelt werden. Vermittelt in der Tat, denn vieles geht doch im Unsinn verloren. Aber vielleicht, liebe Leser, sehen Sie das als Aufforderung, selbst auf die Suche zu gehen. Und auf Besuch zu kommen, nach Nordwales. Beide Colegs, von denen Sie gleich mehr erfahren werden, sind noch ansichtig.
Normal Site II
Unser Verrat eine Täuschung! Eine Täuschung der Verrat, die uns blendete. Das sehen wir jetzt, wo wir der Gebärmutter ihrer Täuschung entkommen sind und sich vor uns der wahre Schatz, der nicht zu schmuggeln noch zu bergen ist, zeigt. Unsere Suche, die halbherzig war, findet in der Reflexion sich zur vollen. Jede Gegenwart hat eine Geschichte, die wir erst als die unsere erkennen müssen. Doch die Gegenwart ist die blendende Sonne und so braucht es das Nachbild, das uns die Vergangenheit vor Augen führt. Das Nachbild begegnet der Entgegnung und enthüllt den Blick in eine schöne Gegend. Wir werden weiter suchen und weiter finden, Täuschungen, Nachbilder und schöne Gegenden, Gegenden wie die von Normal Site. Dort glaubten wir unsere Seelen verloren, doch welch Täuschung, denn …
Der Normal Site Campus der Universität Bangor liegt an der Holyhead Road zwischen dem Hauptcampus der Universität und dem prestigeträchtigen Ocean Science Campus in dem Örtchen Menai Bridge, den zu erreichen man die Menai Bridge-Brücke überqueren muss, die nicht nur das Festland Gwynedd mit der Insel Anglesey verbindet – sind sie doch durch den Menai Strait getrennt –, sondern über die auch zahllose Hymnen gesungen und geschrieben wurden. Wir brauchen also keine weiteren hinzufügen. Aber in der Tat, sie ist eine Augenweide inmitten von Augenweiden.
Normal Site hingegen ist ein ausgeweidetes Flecken Erde, abgehangen von der täglichen Wirklichkeit durch die viel befahrenen Holyhead Road, jene Zufahrtsstraße zur und zum Augen weidenden Menai Bridge. Selten angefahren, es sei denn es ist Arbeits- oder Studienplatz, bleibt Normal Site unanschaulich. Ein Ort des Lehrens und Lernens ist Normal Site auch deshalb, denn unerhört, wisse sich jemand nicht ungesehen jeder Anschaulichkeit. Ein Ort des Lehrens Lernens war Normal Site aber schon immer, darin muss es sein Wesen nicht erst suchen, sondern ist ihm als solches gewiss. Stiller Neid entflammt.
Obwohl, der Neid verlöscht noch bevor er wirklich Feuer fangen konnte, ein Versetzter wie wir, ist Normal Site Campus. Weit älter als die Universität lässt sich über den Campus tief ins 19. Jahrhundert zurückblicken und zurückwandern, wollte man denn von der Holyhead Road sich aufmachen zur College Road. Hier nämlich finden sich die Anfänge des einstiegen Y Coleg Normal/The Normal College, dem der Normal Site Campus seinen Namen verdankt. Gegründet 1858 und architektonisch versandsteint 1862 in dem, was heutige Studenten der Universität Bangor als Alun Builing und Management Center Komplex kennen. Dort war es ein Ort der Lehre und des Lernens im autopoietischen Sinne: Hier wurden noch Lernenden von Lehrern belehrt, wie sie einst Lernende zu lehren hätten. Ganz dem namensgebenden Konzept der Normalschule. Das stammt – wie alle Kultur – natürlich aus Frankreich, doch verbreitete sich – gar noch vor der Französischen Revolution und weitaus erfolgreicher – schnell in ganz Europa und erblühte dort in geradezu postmoderner Vielfältigkeit, die mein Hauchen Nomen est Omen an dieser Stelle kaum mehr erlaubt. Welch gute alte Zeit, als alles noch anders war, nicht nur unter uns, sondern unter sich. Doch nicht vorschnell preisen wollen wir diese Andersheit, war sie doch vor allem die einer nationalen Pädagogik, im Falle von Bangors Normal College eine Lehrerausbildung für britische Schulen in Wales. Bangors Ruf, ein schlechter, so schlecht, dass er als Running Gag Fernsehgeschichte schrieb. Seine Studenten verließen das College unbelehrt, doch wir fragen: Waren sie wirklich Unbelehrbare?
Durch Ruf bereits auf der pädagogischen Landkarte marginalisiert, sollte das Coleg Normal auch bald topografisch verdrängt werden. Die Universität Bangor, sentimental-utopisch gegründet 1884, wuchs seit 1911 zum Riesen auf der gegenüberliegenden Straßenseite heran. Es wurde also eng, die Hosen passten bald nicht mehr, die Gebäude des Coleg Normal blickten grüner herüber als die eigenen sich anfühlten. Und wer will – außer unsereins – schon im Schatten der Großen sein Dasein fristen? Kampflos, wie keiner es in seiner stolzen Geschichte je gekannt hatte, zog das Coleg Normal also aus, weil es das Fürchten nicht lernen, nur weiterhin lehren wollte, Krieger an der falschen Front. Bangor kofferte sich ins Gebäude, Coleg Normal nur seinen Ruf im Gepäck fand das Abseits von Holyhead Road. Dort, sich dem topographischen Fatalismus ergebend, denn nur durch abtauchend und von der Oberfläche verschwindend ist dieser Ort zu betreten, klopft der institutionelle Abstieg am Sandstein bald nur noch repräsentativen Gebäude des Coleg Normal. Doch wir greifen voraus, das Ende kam schleichend, wir wollen es auch so erzählen. Schleichend auch, war wohl die Strategie des Riesen von der College Road gewesen, der nun seine Beute, geschwächt durch Lichtmangel im Abgrund, endlich erlegt hatte. Die Universität schluckte 1996 das Coleg Normal, dem man die institutionelle Einverleibung als Aufstieg schmackhaft machte, doch was kümmert einen der Geschmack, wenn man der Fraß ist? Schön sterben tröstet nicht.
Die institutionelle Magensäure setze dem abseitigen Campus also zu, ohne ihn doch wirklich zu verdauen. Statt dem universitären Körper Kraft zu spenden, zog er sie ihm ab: Wer umzieht, zieht ab. Also bitte merken: Immer hinter sich abziehen. So bleibt man Sieger, auch wenn die Historiker keinen Spuren mehr finden, einzig die mit den feinsten Nasen werden fündig werden. Forscher wie wir, die nicht nur Papier riechen. Der Körper ist oft klüger als der Geist und so schickte die Universität geistlose Armeen der Leibesertüchtigung, um den Campus, der immer schwerer im Magen lag, als School of Education and School of Sport, Health and Exercise Sciences durch Namen und gelebte Körperdisziplin zu beschwören. Doch die Luft im Abseitigen ist dünn und so macht zu viel Sport die Muskeln sauer. Azidose greift, das wissen auch die unbelehrbarsten der geistlosen Armee, das Herz an, das wir alle im Zentrum wissen. Genau: College Road. Verlangsamte Erregungsausbreitung und verminderte Herzkraft sind die Folgen. Wir ahnen es, die Liebe der Universität zum Normal Site Campus starb den institutionellen Tod, die Scheidung steht bevor, erneute Umzüge und Abzüge werden also folgen. Hatten wir es schon verkündet? Die Ursache liegt in der Zukunft. Die Verlassenheit des Normal Site Campus war also keine Täuschung, war Bild und Nachbild zugleich und somit Vorsehung. Wir wissen, die universitäre Geschichte des Abseitigen wird mit dem Normal Site Campus ein Ende nehmen. Trauer übermannt uns. Dunkelheit breitet sich aus, weitere Nachbilder können sich ausbilden. Der Trauer ist Zeit kein Warten und so können wir weder warten noch Geduld zeigen, doch die Zeit der Trauer nutzen und fragen.
Was war hier zu lernen? Wer hat uns gelehrt? Nicht als Lehrer hatten wir hier eindringen wollen, sondern als Schüler, denn als solche verstehen wir uns, verstanden wir uns schon immer, denn nur so ist Perspektivverschiebung zu erreichen. Die Lehre, die wir uns verstellend suchen, ist die der Revolution, auch einer Normalität der Revolution. Über allem aber der Wissensdurst als eine Technik des Überlebens unter dem Banner des Ver-stehens gegen die Ver-dauung. In diesem Geiste und unserm Leib tragen wir unsere eingeweideten Sehnsüchte weiter ins Abseitige. Zuversichtlich im Liminalen zwischen Festland und Insel, in den Verschlusszeiten zwischen Augenweiden, Antworten zu finden und den Neid zu löschen. Denn Neid spüren wir noch immer, ahnen wir in den Geschichten der walisischen Gegenden doch die vieler Helden, die dem Feind die Magenwand zersetzen, der so geschwächt daniederliegt und droht abzusterben.
3.5.2020
Binnenvorwort Roman Camp I
Der Text beginnt mit einer präzisen Verortung. Sie dürfen als Leser aufatmen. Als hätten die vorangehenden Texte die Sackgasse des Pathos, in dem sie sich trüb zu spiegeln hofften, als das erkannt, was sie sind, ist der Text Roman Camp ein verwandelter. Als wisse er sich als Wissenschaftler. Historiker gar. Die Textstimme gibt außerdem endlich Auskunft über sich selbst und über ihr Herkommen. Leider trägt der Text vormals Angespültes weiter, sprich die Foto-Love-Story drängt sich im Reden vom pubertären Drängen selbstbewusst zur Wissenschaft. Nur weil man von seinen Fehlern weiß und sie anspricht, macht man sie noch lange nicht gut. Mit diesem Einwurf hätten Sie recht. Aber Pubertierende, seien Sie nun Text oder aus Fleisch und Blut, lassen sich ja selten etwas sagen. Achten Sie daher vielleicht lieber darauf, wie der Text funktioniert, der sich der pubertären Verwandlung und Persönlichkeitsspaltung, von sich selbst entfernt und als eine weitere Stimme – vermutlich das Textbewusstsein – auftritt. Sie lägen falsch, würden Sie annehmen, dass ich, mit dieser zweiten Textstimme identisch wäre. Vielleicht lägen Sie mit der Annahme näher, dass Sie es selbst sind, der und die sich da als Textstimme manifestiert? Wie auch immer, freuen Sie sich darauf, endlich mehr über den Metatrichoniscoides celticus zu erfahren. Ein in Wales, sollten Sie eine Reise in meine Gefilden erwägen, ansässiges Tierchen.
Roman Camp I
Unsere Lage: N 53° 13.734 W 004° 08.270
Erneut verzog es uns an einen Ort der Schönheit. Auch hier die Schönheit vor allem als Umgebung, sprich als Panorama. Dies einmal – so wird uns nun verklärt – zum Unterschied zu Normal Site, ein Ort der Erhebung, erhoben über der Stadt Bangor, über den Menai Strait und erhoben in Conwy Mountains und vielleicht auch Snowdonia.
Anwohner Bangors wissen von welchem Ort ich rede: der unter uns Bangoresen als "Roman Camp" verkannte normannischen Burg, die auch mit wenig Mut ausgestattete Abenteurer an der nördlichen Spitze Bangor in Upper Garth finden könnte. Ja, einer der vielen kurzen Rundgänge die Bangor zu bieten hat, führt auch Besucher, die von ihrem Abenteuerherz noch nichts wissen, zu dem "Roman Camp". Für uns aber vor allem ein genius loci der Verifiktion als der wir uns selbst vertexten. Denn vernannt zum Roman Camp imaginiert jeder Aufsucher dieses Ortes das römische nicht das normannische Reich des Grafen von Chester, der unter dem alles nur nicht walisischen Decknamen Hugh D‘Avranches irgendwann im 12. Jahrhundert, die Römer waren längst Urgeschichte sich eine Motte baute. Freunde des Deutschen erkennen diese Motte bitte nicht als Insekt – auch wenn diese Verwirrung uns später noch beschäftigen wird –, sondern verkennen sie als einen vorwiegend in Holzbauweise errichteten mittelalterlichen Burgtyp, dessen Hauptmerkmal ein künstlich angelegter Erdhügel mit einem meist turmförmigen Gebäude ist. Unser Dank gilt Wikipedia, das uns auch zu digitalen Heimatgefühlen verführt, denn Motten – deutsch wählt man Turmhügelburg, Erdhügelburg und Erdkegelburg – streuten sich als Befestigungen vor allem des niederen Adels auch in unserer mittelalterlichen Heimat, dem Bergischen Land. Ja, so verlesen wir laut und in gebührender Gehobenheit: Vom Mottenhügel der Burg Berge leitet sich ein Landesname ab: Das Herzogtum Berg und sein Bergisches Land. Über die Überreste der Bergischen Höhenburganlage – denn hoch liegt das Bergische Land – dürften noch heute romantische Waldspazierer in Odenthal-Altenberg stolpern, dürfen es aber eigentlich nicht, denn eingetragen ist sie als Bodendenkmal. Und Eingetragenes ist den Bergern wie den Preußen (Achtung: äußerst abenteuerlicher historischer Witz, im wahrsten Sinne des Wortes Witz – wir befinden uns ja im Mittelalter [und damit reiht sich ein weiterer abenteuerlicher worthistorischer Witz an den vorigen – wer ist da dann die Avantgarde: der Vorwitz, der Nachwitz oder der witzige Autor, der sich ja eigentlich als *in definiert]) ja heilig. Wie mir die Heimat, die ich längst als Triptychon verlebe, also reich und glücklich. Nun gut, das Bodendenkmal ist schützenswert, weil es einmal der erste befestigte Stammsitz des Adelsgeschlechts der Grafen (später Herzöge) von Berg war, also unsere Urherrschaften. Doch deren Spuren sind heute kaum noch Autorität, weder in der Topographie – die Ruine beinahe 1000 Jahre alt kämpft mit sich um ihren Status als Ruine, den ihr die Natur seit Jahrhunderten abzuringen versucht – noch in unserem Herzen, dass wir nicht nur offen vor uns hertragen (denn es ist die eigentliche Avantgarde), sondern auch befreit von Hierachieethik.
In der Bangoresischen Motte des Grafen Chester begegnen wir also eigentlich uns selbst, das Roman Camp erkennen wir nun als Ort unserer Verheimatung, psychogeographischer Campingplatz. Jubel des Herzens, das obwohl Avantgarde (und damit ja eigentlich immer fern der Heimat – der zurückliegenden wie auch der einst einmal neu zu findenden) – es sich erlaubt, einem Wonnegefühl hinzugeben. Doch das sei auch erlaubt, und zugleich dem Leser auf dem Weg mitgegeben: Ein Wonnegefühl, das aus dem eigenen sich in verzauberter Verirrung psychogeographischer Imagination verlierenden Herzen emporsteigt, sei nicht nur jedem vergönnt, sondern ist verdient. Denn ein solch befähigtes kräftiges Herz erfährt sich wonnend als autonom. Und wieviel stärker wird ein Herz, das sich aus sich selbst heraus als aus sich selbst heraus erfährt ...
Unser Vorstoß in die Höhenlagen Bangors ein Vorstoß in die Höhenlagen unseres Gemüts, endlich einmal – nach so vielen kräftezehrenden Niederlagen und Zweifeln?
Doch wer vertraut ist mit Höhenlagen, weiß: ihnen ist nicht zu trauen. Denn manche verbergen ihre Gefahr: den Bergkamm (oder in unserem Falle als Verifiktion: den Höhenkamm), der dem Aufstieg den Abstieg nimmt und den Fall gibt. Unser Herz, auch wenn jubelnd erfüllt, ahnt das der Bergkamm auch im Roman Camp zu finden ist, denn die Abstiege nach Maesgeirchen und Normal Site haben uns gelehrt, dass wir den Bergkamm in uns selbst tragen. Und so ist das Zittern unseres Herzens – das wir uns nun eingestehen – nicht die Resonanz des Jubels, sondern der Höhenwind, dessen Wellen sich am Kamm brechen. Der romantische Waldgänger verhöre die Espe wispern, unser Herz aber hat sie nun erhört und sich ergeben: Kaum ist der Mottenhügel verlassen, kaum haben wir uns ins Grad niedergelassen, Rücken an Rücken mit unseren Mitabenteurern, erlaubt der Resonanzraum unseres Herzens einzig noch Espenlaub. Prosaisch weit ist das jubelnde Herz, verdichtet stets das zitternde. Resonanz nicht mehr als Körper, nur in den Körper hinein – auch der also nun zitternd. Unbegreiflich dieser Rückfall über den Bergkamm: Jeder Mut, den wir den unseren wussten, von uns gewichen, nur weil die Vorstellung, wegen der wir uns in die Höhenburganlage verklommen hatten, auf einmal Raumzeit werden wollte. Bedrängt fühlte sich unser Herz von soviel Dichtung, und hätte es nicht gezittert, wäre es diesem pubertären Drängen geflohen. Doch wie, wenn das Rückgrat des anderen Rückgrats bedingte, um aufrichtig zu sein. Oder war es nicht das andere Rückgrat, das das Zittern bedingte, weil es die Aufrichtigkeit forderte? Wie die aber verrichten, wenn Körper und Herz vom Rückfall in Vorabenteuerliches erschreckt sind?
Vielleicht heilt die Zeit alle Wunden, vielleicht tut Ablenkung Not und Gut? Daher lassen wir die beiden Erschreckten allein, die doch nie allein waren. Denn das Roman Camp birgt nicht nur Höhenkämme menschlicher, sondern auch tierischer Natur. Einer Natur, der wir uns bald auch seelenverwandt wissen werden. Denn ortsansässige Forscher, die uns Avantgarde waren, drehten vor nicht allzu langer Zeit – so zeitnah, dass es sich an den Händen ablesen ließe –jeden Stein und Ast der 7,66 Hektar des Roman Camp Areals um. Und sie wurden fündig. Unter einem Stein winkten ihnen, alarmiert von dem plötzlichen und ungewohnten Überschuss an Sonnenlicht und Lufttrockenheit, zwei Exemplare der seltenen Asselspezies Metatrichoniscoides celticus entgegen. Welch herzliches Winken das gewesen sein muss, eine Armee von Winkebeinchen und Winkescheren – 22 dürften es gewesen sein, friedlich, denn welcher Angreifer pflegt ein Leben im Verborgenen? Fremd ist die Metatrichoniscoides celticus trotz ihres Namens in Nordwales und daher uns seelenverwandt. Seelenverwandt auch, weil sie unter den Gliederfüsslern – dem Stamm dem wir sie zuzuordnen pflegen –, die mit 80% aller bekannten Tierarten die größte Gruppe stellen, noch nicht einmal eine Minderheit sind. Vielmehr sind sie eine Rarität, die zum Unikum tendiert. Daher vor allem der Forschung Gesuchte – und nun auch Gefundene. Das Schicksal der Gefundenen wir wissen es längst aus eigener Erfahrung ist der Tod. Und so sind die so gefundenen Exemplare der Metatrichoniscoides celticus in Bangor bislang auch die einzigen und vermutlich die letzten, weltweit gelten sie als gefährdet. Welche gefährliche Falltiefen schafft das Wissen, wie friedlich hingegen unsere Vorstellungskraft, und so erfinden wir uns Exemplare. Dieser Exkurs macht uns einsichtig, dass auch wir erfundene Exemplare sind. Vermutlich wissen wir deshalb so wenig über uns selbst? Daher sind auch die Umwege Rat und Tat, denn wer hätte gedacht, dass wir in den Metatrichoniscoides celticus uns selbst anblicken?
Und wie wäre es noch zu rechtfertigen gegenüber uns selbst und den Metacelts, denen ein fündiger Wissenschaftler ihr verstecktes Leben raubte, dass wir uns unseres Rückgrates verlustig glauben? Und so finden wir im Leben unterm Stein, in der Feuchte des Drecks, unseren Mut wieder, es braucht des anderen Rückgrates nicht, denn das Leben, das wir nur einmal haben führen wir für uns selbst heraus. Und manchmal führt das ja zum Anderen.
Verifiktion führt, so siehst auch Du jetzt, zwar nicht zur Verifizierung dessen, was wir nicht wissen, aber doch zu einem tätigen Herz, das so tätig immer nur den Zufall seiner selbst hervorbringen kann. Wer wir sind, verkennen wir immer nur an den Kämmen, denen wir dieses eine Mal auf der Höhe verfielen, die anderen Male so oft in den Niederungen. Weil wir uns nie deutlich sehen, blicken wir entweder zurück auf uns sich selbst Verfallende oder verblicken uns in den abseitigen Verwandten, die in der Dunkelheit leben, aber der Sonne entgegenwinken. Es sei noch angemerkt, dass die in Bangor gefundenen Metatrichoniscoides celticus blind waren.
Binnenvorwort Roman Camp II
Das Text-wir dieses Textes ist ein erweitertes. Inzwischen hatte einer der einst Ahnungslosen, die nach Maesgeirchen aufgebrochen waren, zusammen mit anderen Ahnungslosen, in die sich das Abenteuer Maesgeirchen nicht eingebrannt hatte, eine Künstlergruppe gegründet. Diese trug und trägt Fahnen, die synästhetisch den Namen Neue Walisische Kunst verkünden. Der Text schaut zurück auf die erste Kunstaktion, die in programmatischer Ahnlehnung* an Christoph Schlingensief einen Fahnenschwenkerfilm produzieren wollte und sollte. Sie dürfen nun gerne zum Ende des Buches blättern, wo Sie Webseiten bibliographiert finden werden, die Sie ablenken zu filmischen Paratexten des vorliegenden Buches. Wenn Sie Glück haben, stolpern Sie auch über Dokumentationsmaterials des Fahnenschwenkerfilmdrehs am Roman Camp.
Sollten Sie jedoch lieber weiterlesen wollen, so seien Sie hier darauf hingewiesen, dass sich mit der Neuen Walisischen Kunst das Text-Wir erneut verwandelt hat. Vor allem hat es zugelegt, zu den einstmals und wieder zwei Ahnungslosen stoßen ein ursprünglicher Deutsch-Walisischer Freund und die Ikone der Deutsch-Walisischen Freundschaft.
Außerdem weiterhin mit dabei: Der Metatrichoniscoides celticus und die Römer.
Roman Camp II
Heiner Müller sagte einmal, Theater sei eine blinde Praxis. Das lässt uns nachdenken über die gefährdeten Metatrichoniscoides celticus, die wir – kaum dass wir sie als Freunde, gar Seelenverwandte erkannt hatten – in Bangor als nicht nur gefährdet, sondern als an die Vergangenheit verloren wussten. Kaum hatte man die beiden blinden Exemplare gesehen, waren sie auch schon seziert. Das Sehen der Wissenschaftler blind gegenüber dem Leben, das da ein Ende fand. So blickt die Wissenschaft stets nur in die Vergangenheit und ist für das Leben blind. Ihr Blick ist aber nicht die blinde Praxis des Theaters, die eher der blinden Wut verwandt ist. Wissenschaft zerstört gezielt, das Theater hingegen im wütet und zerschlägt manchmal auch das, was es eigentlich liebt.
Damit verfangen wir uns auf Umwegen wieder zu unserem Urthema, das sich uns immer mehr als Urproblem entlichtet, sprich eine Lösung wird es nicht geben. Kurz der Gedanke, es wissenschaftlich anzugehen, sprich eine unendliche Serie, in der sich das Urproblem so sehr verdünnt, dass man von ihm, der eigentlich ein ihr ist, als Lösung sprechen könnte. Fraglich aber, ob die Lösung Erlösung bringen wird. Wir wollen es dennoch ersuchen, müssen es aber auf ein metaphorisches morgen verschieben. Denn das Wetter rief zur Schlacht: man hatte klare Sicht, wollte mit einer freundlichen Armee ausrücken, um unter dem Banner der Neuen Walisischen Kunst das Überleben zu üben. Das Roman Camp war uns kryptisch aufgeladenes Schlachtfeld, hatten wir in ihm doch voller Euphorie die ferne Heimat erspürt und in tiefer Trauer Freunde zu beklagen. Wir ahnten, die Trauer galt eigentlich uns selbst, die in sich bereits der Niederlagen Müdigkeit spürten, und in denen sich bereits die Blindheit des Fluchtschlafes ersehnte. Man erhofft sich immer eine Stärke, weiß sie aber als getarnte Verletzlichkeit. Entsetzen in dem Einverständnis, das man in sich spürt, dass ein Ich einzig in der Wunde sich auftun wird. Denn unergreifbar ist der Starke.
Doch das nur muxmäuschenstiller Argwohn heute, generell aber Triumph der Zuversicht, denn wir waren größer aufgestellt als sonst. Die Rede von einer Armee war durchaus begründet. Das spürte die Gruppe selbst: man marschierte, hisste die Flagge, hielt Ansprachen und zog schließlich aus, ein Schlachtplan im Kopf, der selbst von der atemberaubenden Schönheit jeden Ausblicks vom Roman Camp aus nicht anoxisch werden sollte.
Doch wir wollen endlich einmal der Reihe nach erzählen, denn die Reihe ist die Ordnung der Armee, und als Armee hatten wir uns ja erfühlt und noch zu jenem Zeitpunkt noch nicht verflüchtigt. Die Fahne der Deutsch-Walisischen Freundschaft anfangs noch hoch, löste die Reihe hingegen bald auf, was uns erleichterte, denn als geschlossene hätte unser Anblick unzutreffende Verweise evoziert, hätte von uns ein Nein verlangt, wo wir doch uns verpflichtet hatten einzig unter dem widerstandlosen Ja in Bewegung zu bleiben. Eine Niederlage der Neuen Walisischen Kunst war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erwünscht, hatte sie selbst sich doch noch gar nicht ereignet. Im Rückblick im Übrigen große Zweifel an der gewählten Metapher, am Tage selbst aber ist man blind gegenüber den Entscheidungen, die die Taten verlenken. Man folgt hingegen dem Genre (auch: Gattung). Das führte uns vom Fahnenschwenkerplatz per Marschroute via Roman Camp, wohin wir unsere Erwartungen ausgemalt hatten. Doch welch ein Trugschluss, bereits im als Noch-Nicht geglaubten erfüllten sich unbezeichnete Hoffnungen. Zivilisten beäugten uns, manche ver – andere erbaten Auskunft, nicht wir also Kundschafter, sondern Botschafter. Vertauschte Rollen, stellten wir doch sonst die Fragen. Und welch ein Zuspruch, von solcher Offenheit, die den Schlachtplan nichtete und alles zum Schauspiel wurde. Wir schauten uns also folglich zu, beschauten uns selbst, doch erkannten uns nur in dem anderen. Die nämlich verkannten uns zu Ausländern, an die wir nie gedacht. Waren wir die Römer, die sich als Normannen belegten? War es das, was es zu lernen galt: Uns selbst als die Verifiktion zu verstehen, als der wir uns tarnten? Wir freundeten uns mit diesem Gedanken an, das Ja, dem wir uns verschrieben hatten, rief der freundlichen Idee entgegen, die daher immer näher kam und schließlich, gemeinsam mit uns am Fuße des Roman Camp anlangte. Die Geographie verlangte also einen Aufstieg, den wir auch gewollt – vielleicht sogar willentlich gesucht –hatten. Keine Kunst also, sondern Politik. Ein Fehler, eine Schlinge – doch die war nötig, denn nur so hält das Leben und die Kunst Lektionen bereit. Blind freilich muss man für die Schlinge sein, ansonsten lügt man sich etwas in die Tasche hinein.
Ein Aufstieg zum Roman Camp erhebt das Haupt, das gierig die grüne Zukunft verschlingt, die es vor sich glaubt. So füllten sich die Taschen, die erst heute, da ich dies schreibe, mir leer entgegenflüstern. Selbst für einen Schrei reicht es nicht: von Müdigkeit längst übermannt. Doch wir sind noch im Aufstieg, machen – den Gipfel bereits in sich triumphierend verschließenden Pupillen eingefangen – Rast und halten unsere Siegesgewissheit ikonisch fest. Eine Aufbauorganisation werden wir sein, fühlen uns vielleicht schon als solche, werden aber erst andernorts und von Freunden zu solchen erkoren. Eine rote Zukunft also, man sieht im Aufstieg stets nur Komplementärfarben: Die Wahrheit ist das Nachbild! Ein Schlingen Sieg! Jetzt, wo ich müde dies schreibe, plötzlich Glück: Neue Walisische Kunst hat sich in unserem Auszug damals also nicht nur gespielt, sondern tatsächlich ereignet – wenn auch erst nachdem wir ihr den Rücken zugedreht haben und bereits wieder zu Hause sind. Nichts war umsonst! Diese Kraft jetzt gilt es zu speichern – wenn auch nur als Information, denn als Anschub wird sie bald versiegen (das lehrt uns die Erfahrung).
Diesem Nachbild blind zogen wir Römer weiter den normannischen Hügel empor, erfreuten uns an uns selbst, die glaubten sich in der Kunstgeschichte, die sie ersuchten, endlich gefunden zu haben. Doch es war ein Verlieren, die Hysterie deutete es bereits an. Wir könnten das als ehrlichen Moment umdeuten, wollen es aber nicht tun, denn wohin führen Gedanken zur Selbstlüge, zumal Zuständen der Verschöpfung, die jetzt, wo ich das schreibe, mich ergriffen hat. Selbst der Schmerz einer Wunde, von der noch zu berichten sein wird, klingt ab. Ich entschließe mich die Fluxusarmee zu verlassen, denn sie spricht so leise wie der Schmerz. Daher frage ich mich: Ist die Blindheit offen und wach, Müdigkeit aber taub? Gibt es eine taube Blindheit? Ja und Nein. Vielleicht dazu morgen mehr.
Binnenvorwort Tŵr Marcwis I
Die zwei einstigen Ahnungslosen sind von ihren bisherigen Abenteuern erschöpft. Auch die Foto-Love-Story ist erschöpfend, weil sie ausgeschöpft scheint. Das frühsommerliche Wetter aber treibt beide vor die Tür. Der Text begleitet sie auf ihrem Spaziergang. Sie treffen zwei Freundinnen, die erste verweilt nicht, die zweite formt das Paar zur Truppe. Zusammen begibt man sich auf den Weg zu einer kleinen touristischen Attraktion: Das Monument des Marquess of Anglesey in der legendären Ortschaft Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.
Auch der Text verweilt nur halbherzig mit der wenig abenteuerlichen Truppe, notiert einiges Passiertes am Wegesrand (Deleuze, Zukunftsgesten), und liefert stattdessen Touristisches über die malerische Gegend, in die es sie alle trieb.
Tŵr Marcwis I
Es zog uns erneut ins freie Abenteuer, diesmal bescheiden als Bummel von der einen Seite angefragt, von der anderen Seite dann mit ohnehin längst niedrigsten Erwartungen angemessen anvisiert. Die Sonne lockte unsere müden Körper also ins Freie, diesmal eher in der Hoffnung, jedes Abenteuer möge ausbleiben, denn sie kosten viel Kraft, die zu mobilisieren erneut Kräfte kosten würde, die den mobilisierten Kräften dann fehlen. Wir aber waren geschwächt, im Fleische wie im Geiste – kraftzerrende anturiaethau daher undenkbar. Dabei hatten wir die Schwäche füreinander längst aufgegeben, aber vielleicht war es gerade diese Aufgabe, die jede Kraft geraubt hatte. Sie hatte ihren Preis also nicht beim Kauf. Schwäche lässt sich nicht verscherbeln. Wir wünschten, wir hätten diese Lektion nicht leibhaftig zu lernen.
Wieder einmal mussten wir also als schon Verwundete aufbrechen, weiterhin vor allem an uns selbst und unseren Erwartungen gescheitert – und doch in diesem Scheitern weiter gekommen als mit unseren Siegen, mithin also kein Grund zu Fatalismus. Gelernt hatten wir, dass Siege, es waren wenige, zumeist an dem Ort bleiben, an dem sie geschehen, Niederlagen und Verletzungen hingegen tragen sich fort und sind somit ergiebiger. Oder: Siege kann man vergeben (=vergeblich), Niederlagen hingegen muss man sich ergeben (=ergiebig).
Dies also der Punkt, an dem man sich traf und zugleich aus dem Weg ging. Das im Übrigen in redseliger Verschwiegenheit, die einiges Berichtenswertes auszugraben wusste. Man bewahrte also das Gesicht, das man sich doch eigentlich entblößt hatte. Unnötige Kräfte auch hier verloren, doch man klagte vor allem über andere Baustellen, alles zähes Fleisch, bei dem müdes Kauen wenig hilft.
Dann, endlich, ein Plan. Der verbummelte den Bummel, fand aber auf Zustimmung oder vielleicht fügte man sich auch. Wir wollen nicht vergessen, dass Widerstand uns fremd ist, wir dem Ja huldigen, in all seinen Variationen. Das Ja, das ja nicht mehr uns gelten konnte, denn das hätte zu viel Mut verlangt, galt dem Vorschlag, die berühmte Säule des Marquess von Anglesey zu besuchen.
Nun, rückblickend, ist zu gestehen, dass die müde Gleichgültigkeit, in der man sich anfangs noch glaubte, den Vorschlag zwar mit zusätzlichem Kummer belegte – denn der Weg schien weit – andererseits aber doch des Körpers floh, war doch besagtes Ziel weiteres Neuland. Ja, man erinnerte sich an walisisch-deutschen Austausch über die Säule, die Erinnerung aber reines Kauderwelsch, weil es eben auch der Austausch gewesen war; und ja, hatte man nicht über Jahre unter dem Banne dieser Säule gelebt? Der Vorschlag, so erkennen vielleicht auch Sie jetzt, kam damit einer Reise zum Mond gleich, unter dessen Banne wir unsere Tage und Nächte verleben.
Der Plan führte also zum Aufbruch, bislang war man nämlich – die falschen Wunden leckend – hauptsächlich auf der Stelle gebummelt. Doch urteilen wir nicht zu schnell: Fluxus ist kein Kontinuum, sondern passiert mit sehr niedriger Wahrscheinlichkeit meist dann, wenn man es am wenigstens erwartet und am stärksten verhofft: zum Beispiel wenn das auf der Stelle Bummeln unbemerkt bereits zu einem Aufbrechen wird, einem Aufbrechen aus dem Stande heraus ist es nämlich nicht. Und ja, die Götter schienen auf unserer Seite, kaum hatte das Sprungbein die Erde unter unseren Füßen in Bewegung versetzt, erschien St. Helena, die Göttinnenbotin, uns Schutzpatronin, Begleitung auf diesem ersten Abschnitt, auf dem auf uns alleingestellt jeder einzelne von uns dem anderen so sehr an die Substanz gegangen, der Plan in Gefahr gewesen wäre. Gerettet. Wenn auch nicht erlöst.
Der erste Aufstieg war ein Aufstieg, auch deshalb weil Plan und Zufall sich zu Sinn verdichteten: Der Marquess von Anglesey verdankt sich selbst seinem kavaleristischen Kommando in der Schlacht bei Waterloo, die Napoléon Bonaparte in die Verbannung auf St. Helena zwang. Unsere Schutzpatronin also eigentlich auch ein Hermes. Der passierte Sinn, er war ja tatsächlich zu Fuß gekommen, verlieh aber Flügel. Der Aufstieg also eigentlich ein Auftrieb. Dort oben stieß man auf Willen, daher folgte eine kurze Stärkung durch Wasseraufnahme, denn das Herz schlug schneller, heizte den Atem an: Verdunstung, aber nicht der Sinne in Nebel, stattdessen: klare Körpersinne, also Durst. Wasser mit zündendem Geist, der uns Freude bescherte über die Einsicht, dass der Weg zur Säule des Marquess von Anglesey allen unbekannt war. (Aufbruch auch beim Satzbau) Auch die Schutzpatronin hatte uns verlassen, so dass wir uns sicher seien durften, nicht vom Weg abzukommen, da wir ja keinen hatten. Die Abenteuerlust kitzelte uns zugleich zu einem Umweg, der Schönheit willen. Auch das freilich Vorsehung, führte der Umweg doch in eine Raum-Zeit, in der wir auf eine unserer loyalsten und bewährtesten Mitstreiterinnen für eine Neue Walisischen Kunst trafen: Wonderwanda. Es sei zu diesem Zeitpunkt bereits festgehalten, dass damit ein weiteres Mal versichert wurde: Nicht immer ist der eigene Zustand, der Lauf der Welt.
Bewegte Freundschaft verlieh noch einmal Frische, man blühte auf. Vielleicht auch, weil endlich befreit von der Nähe des Begehrens, die nur noch als angestrengter Wille und Vorstellung zwischen uns bestellt schien, denn die Mitstreiterin verlangte – wohl eher in Rücksicht auf uns als für sich selber – befreite Zone. So stiefelten wir in gebührender Entfernung zueinander, Verwandte doch im Auftrag, entlang jener Schönheiten des Menai Strait, von denen ich bereits berichtet habe. Die Schönheit war für manchen von uns gar neu, man pflichtete sich bei, man habe sie letztendlich doch zu schätzen. Was kann die Natur schon dafür, dass der Mensch sie verrahmt und verramscht? Wir daran allerdings kaum unschuldig, wenn wir auch nicht rahmten, so infiltrierten wir doch durch entrahmenden Unsinn im Namen Deleuze (Delös). Befreit wurden dadurch nur wir selbst – und ohnehin, was ging uns die Natur an, die sich dieser Tage ohnehin als stärker erwiesen hatte und selbst – man sprach bereits in früheren Texten davon – gekonnt die Zeit zersetzt hatte, die doch einst so anschaulich zwischen den beiden Brücken sich aufgespannt hatte. Zwischen der Menai Suspension Brücke, die nun hinter uns lag und unter deren schweren Steinschwüngen, uns der entbummelnden Plan erfasst hatte, und der Britannia Brücke, deren motorischem Sirenengesang uns kaum weniger schleichend ebenfalls erfasst hatte, spannten sich einst 196 Jahre, davon 2, davon 24, davon 120, davon 50. Geballte Zeit, doch Verschleiß selbst hier, Covid-19. Es gilt daher, das Material zu prüfen, was wir taten und ja, noch findet sich hier Zeit, noch konnten alle Probanten, sicher angeben, wo die Zukunft zu finden sei (siehe Bildbeweise).
Diese führte uns zunächst unter die besagte Britannia Brücke, die gegenüber der Menai Suspension Brücke in der Tat die Zukunft ist, und letztere also ihrer Vergangenheit entweist. Hier, unter den leichten Betonpfählen der Britannia Bridge, die nun, da ich dies schreibe, aufruft genauer geprüft zu werden, finden sich aber zeitlose Botschaften, allesamt kryptisch und uns endlich ein Rätsel außerhalb unserer selbst. Sprich, wir verweilten und strahlten, deterritorialisiert sann uns der Sinn nicht nach decoding: Sich selbst in das Unerschlossene geworfen – eine Grundstimmung des Andersanfänglichen. Erst jetzt erkennen wir, dieser Anstieg unter die Brücke, die vorangegangenen Gespräche, waren ein Wandeln, das sich als Bummeln camoufliert hatte. Wir also zu diesem Zeitpunkt nicht nur Wandelnde, sondern eigentlich Verwandelte, denn im Wandeln war uns die Verwandlung unsichtbar. Fluxus hatte sich in uns ereignet, nicht vor uns. Damit ist alles noch nicht Berichtete, nicht mehr ein Berichten, sondern ein Errichten dessen, was wir zu verrichten imstande waren.
Mit auf den Weg zu vergeben bitten wir: den Ausdruck "imstande sein", der doch falscher Fluxus ist, der der Sache, auf die im nächsten Teil zu kommen sein wird, völlig unangemessen ist und der das Sedimentieren von Klassengesellschaft und Aufstiegsregulierung durch Fähigkeitshierarchie in sich trägt. Solch hegemonialbedeutungsschwangere Sprache verspielt unser Ja. Aber vielleicht wollen Sie ja, das Knie ihres Standbeines einmal fragen, was es darüber so denkt? Ja, verstehen Sie es ruhig als Ausaufgabe. Warum sollten nur wir Aufträgen zuvorkommend sein?
11.6.2020
Binnenvorwort Tŵr Marcwis II
Dieser Text hatte sich in seinem ersten Teil nicht ahnen lassen, auch wenn bereits Bemerkungen zur Geschichte des Säulendenkmals für den Marquess of Anglesey passiert worden waren. An diesem arbeitet sich der Text nun ab, schraubt sich wie eine gemarxte Hegelvortex in Erkenntnisse hoch, indem er die monumentale Säule mental ersteigt. Steigt in ihre Geschichte hinab, wie Besucher einst in ihrem Inneren emporsteigen könnten, um von oben die Aussicht über Insel und Festland zu genießen. Ganz andere Einsichten aber widerfahren dem Text, Einsichten, die Sie, liebe Leser, vielleicht dem letzten Geheimnis der Menschheit durchaus nahe glauben. Doch wie auch in anderen Texten dieser Forschungsreise sollten Sie sich darauf vorbereiten, ein weiteres Mal enttäuscht zu werden.
Tŵr Marcwis II
Wir kamen also als Verwandelte zur Säule des Marquess von Anglesey. Eine verlassene Pilgerstätte, so erkannten wir sofort, Mahnmal des Tourismus, der am Materialverschleiß gescheitert war. Die Säule, immerhin mehr als 200 Jahre alt, hatte ihre beste Zeit gesehen und war wohl keinem Besucher – oder vielleicht auch rigiden Sicherheitsbestimmungen – mehr zumutbar. Die Säule misst heute etwas mehr als 34 m. Diese Höhe verdankt sie einer Statue, die den titelgebenden titelgegebenen Marquess von Anglesey zeigt. Ohne sie ist die Säule, nicht ganz so hoch und hätte doch nur ohne sie Größe. Indes eile ich damit meinem Bericht voraus, der mir bereits im ersten Teil so sehr entglitten ist, dass kein Verständnis mehr zu richten war. Entgleisungen solcher Art aber sind falscher Fluxus, weil billige Abkürzung. Abkürzungen sind aber nur dann möglich, wenn man das Ziel kennt, daher falscher Fluxus. Wenn mein Ziel heute entglittenes Verstehen ist, habe ich bereits jetzt erneut verloren, da es schon jetzt erreicht wäre. Das Ziel kann nicht der Ausgangspunkt sein. Und der ist, dank des gescheiterten ersten Teils besagter Verständnisabgrund. Aus diesem werden wir im Folgenden entsteigen, wir entsteigen ihn bereits mit diesen Worten, denn der Verlust, der aus der Entgleisung auch spricht, wird im Folgenden eine wichtige Rolle spielen wird.
Verloren also war der Säule durch die künstliche Höhe ihre eigentliche Größe. Groß ist diese Säule als Säule, da sie nicht dem titelgebenden Marquess gebaut wurde, sondern von dem Namensträger selbst. Es handelt sich also um ein marmornes Ja zu sich selbst, also um etwas Großes, das wir feiern wollten, das uns Vorbild sein könnte. Ein Vorbild freilich, das sich uns Heutigen nur als verfälschtes Nachbild mit aufgesetzter Statue auf die Netzhaut einbrennen kann. Denn wir traurigen Nachgeborenen blicken, kaum haben wir die 76 Höhenmeter des Craig-y-dinas in der Nähe des Örtchens Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch erklommen, der Säule als Säule mit aufgesetzter Statue entgegen. Diese Statue wagten Freunde des Marquess erst nach dessen Tod als bronzene Überschreibung der Selbstbejahung zu initiieren. Sie, Gefolgsmänner, die sich einzig im Schatten der Säule – die nie ihr Ja, sondern immer nur das des Marquess gewesen war – hatten sonnen können, wollten nun endlich auch krönen und der Verblendung verfallen, das auch dem krönenden der Glanz des Gekrönten eigen ist. Die Statue von Anfang an ein misslungener Sieg. Zudem zeugt sie von falschem Stolz auf falsche Siege, die der Marquess errungen hatte, doch dazu später mehr. Verwechselbar mit jeder anderen Statue der damaligen Zeit, der es gelang auf ein Pferd zu verzichten, zeichnet sie bis heute erwünscht "kollosal" den jungen Marquess als Oberkommandanten der britischen Kavallerie in den Napoleonischen Befreiungskriegen in den walisischen Himmel, aus dem uns die Sonne das unansehnliche Bild zurück auf unsere Netzhaut projiziert. Ein siegreicher Feldherr wie jeder andere.
Die Säule freilich weiß sich des Parasiten auf seinem Haupte zu erwehren, erhebt sie in eine Ferne, die menschlicher Tiefenschärfe unerreichbar, die die Statue entbronzt. Marmor ist größer als Bronze, einzig Gold hätte sich der aufstrebenden himmlischen Kraft des sich selbst durch seine Schwere in die Höhe streckenden Marmors der Säule erhalten können. Auch das ein Beweis, wie wenig die Freunde des Marquess von wahrer Größe ahnten.
Doch so richtig wir mit unserem vorschnellen Urteil über die Statue liegen, so wenig richtig lägen wir mit uneingeschränktem Bekenntnis zu der Säule. Diese, übrigens dorischer Art (bitte unbedingt an den dorischen Eckkonflikt denken), nämlich meinte der Marquess von Anglesey auf einen Sockel platzieren zu müssen, der die Säule dem betrachtenden Auge, nicht aber dem fühlenden Körper aussetzt. Erneut eine überflüssige Belastung der Netzhaut, des unzuverlässigen Sehsinns, und schlimmer noch eine beleidigende Ignoranz unseres Körperwissens. Das nämlich erkennt in der Säule nicht nur die Säule, sondern sich selbst. Ein Erkennen, das dem Auge, das sich selbst nie ansichtig wird, verschlossen bleibt. Die Schwere, der sich die Säule als Höhe entgegenstemmt, ist auch die Schwere, die unser Körper als das weiß, was ihm Kraft kostet, aber auch ihn sich als Kraft erfahren lässt. Heinrich Wölfflin meinte einmal das psychologisieren zu müssen, was hier nicht zur Sache gehört – und vielleicht doch? Denn das Podest enthebt die Säule unseres Körpers, der mit der Säule so nicht mehr verfahren und sich selbst erfahren kann. Was dem Körper bleibt ist einzig das Podest. Für den Fluxuskörper ein wahrer Gräuel, denn Podest ist Standpunkt, noch schlimmer, signalisiert Standpunkte der Kunst. Zusätzliche Gräuel das hier fragliche Podest, das uns dreisprachig von dem Sinn der Säule kündet, und damit buchstäblich verkündet, und damit Lügen straft dem eigentlichen Sinn der Säule.
Wir hielten also für uns, dem Podest und der Statue konfrontiert, fest: Säule, dazu dorisch (Konflikt!), also eigentlich Fluxusfreund, weil ein Erkennen eigener Schwere im Anderen möglich. Säule auf Podest mit erklärender Inschrift, zumal mehrsprachig, Ursache größter Traurigkeit, weil Stillstand und Tod der Kunst.
Was aber ist nun der eigentliche Sinn der Säule, den ich enthaupte? Es ist der Körpersinn. Ja, die Säule des Marquess von Anglesey ist Körpersinn des Marquess von Anglesey. Der nämlich hatte in der Schlacht bei Waterloo, in die er noch als Henry William Paget, Earl of Uxbridge (einem der wohlhabensten Städte Englands) zog, sein rechtes Bein durch eine Kanonenkugel so schwer verletzt, dass es amputiert werden musste. Zum Marquess von Anglesey wurde er aber nicht wegen des Verlustes ernannt, sondern für den Sieg über Napoléon. Es ranken sich Anekdoten um das verlorene Bein, um die Prothesen ("Anglesey Leg") und vor allem die Wanderlust und das Tanzvergnügen des Marquess, als sei der Verlust kein Verlust gewesen. Doch wer wie Joseph Beuys mit dem Knie denkt, weiß der Anekdoten Lügen, denn die wertvolle Zwiesprache zwischen linkem und rechtem Knie ist nicht zu ersetzen. Ist das eine verstummt, muss das andere schweigen, oder man denkt woanders. Das natürlich wäre ein gelungener Verlust, wenn die Denkbewegung des Knies sich selbst versetzt im Verlust.
Und wäre die Säule des Marquess von Anglesey diese Versetzung des Denkens, wäre Denkmal? Oder ein Monument des Verlustes, wäre Mahnmal? Oder, wieder Joseph Beuys, zeigt uns der Marquess von Anglesey, dem nachgesagt wird, noch während der Amputation – die ohne Antiseptikum oder Anästhesie durchgeführt wurde –zu Scherzen auferlegt gewesen zu sein, seine Wunde? Eine Bejahung seiner selbst, ja, aber vor allem der Wunde, die man fortan war. Weil in Marmor ausgestellt, allen sichtbar in den Höhen über Menai Bridge, musste nicht mehr über sie geredet werden.
Jetzt, da wir selbst mit dem Knie denken, fragen wir uns, ob das Podest vielleicht doch eine geniale Eingebung gewesen sei. Ein Monument nicht nur des verlorenen Beines, sondern auch eine lebendige Architektur des Verlustes, den der Besucher im Ausbleiben des Körpersinns, der in der Nicht-Begegnung mit der eigenen Schwere am Saum des Sockels erfahren wird, erlebt? So also musste sich das Leben ohne rechtes Bein auch angefühlt haben, das Ausbleiben des Körpers, der einem etwas mitteilt, das er wissen sollte. Wenn das rechte Knie woanders denkt, aber nicht mehr mit uns? Die Leere ohne Körper ist eine andere als die Leere des Körpers.
Wir hatten es ja geahnt: Die Säule ist groß. Und nun müssen wir erkennen: Sie ist es nicht trotz des Podestes, sondern wegen des Podestes. Erneut also fanden wir ein Abenteuer, lernten wir noch im Ausbleiben des Erwarteten.
Wir leben in Zeiten, in denen Statuen fallen. Fallen auch Säulen? Wir sind für die Enthauptung der Säule des Marquess. Sind für die Offenlegung der Wunde, die wir auch als die unsere verkennen können. Darin läge vielleicht ein Andersanfängliches. Beim Abstieg lagen diese Gedanken noch fern, denn anderes hatte unsere Blicke gefangen, lenkten uns von uns selbst ab. Doch was am Gipfel verfährt, widerfährt auch in den Tiefen. Man kann auch mit den falschen Nachbildern arbeiten. Dieser Text ist der Beweis.
12.6.2020
Binnenvorwort zum Zwischenspiel - Falsche Schlacht
Ein Zwischenspiel ist kein Grund sich auszuruhen, sondern ist eigentlich Binnennachwort und Binnenvorwort. Als solches ist es auch gebändigter Text mit starker Autorschaft. Diese zeigt sich im politischen Finger, der sich wie ein Dirigentenstab über das, was einst passierte, erhebt.
Zwischenspiel - Falsche Schlacht
Soviel glaubten wir bewiesen, soviel glaubten wir gelernt – und doch müssen wir verlernen. Die Arbeit an falschen Nachbildern ist eine andauernde. Sie erlaubt kein Ausruhen, Zurücklehnen, Eisessen. Unser Bekenntnis zur dorischen Säule gehört bedacht. Zwar gilt sie als männliche Säulenordnung, und wer erwartet von einem generalierenden Kavalleristen des frühen 19. Jahrhunderts schon geschlechtsneutrale Symbolik oder gar transgender Gesten. Doch die dorische Ordnung gilt auch als besonders streng und formvollendet. Daher unsere Zweifel, denen wir nachzugehen haben, bevor wir das Kapitel Säule endlich abschießen können.
Die dorische Vollendung und Strenge beschwört den besagten dorischen Eckkonflikt zwangsläufig herauf, forciert außerdem durch die Versteinerung, die der Materialwechsel von Holz zu Marmor brachte. Bedauerlicherweise war den Griechen der dorische Eckkonflikt kein Problem, denn sie fanden Lösungen und verfehlten damit eine der wichtigsten Lektionen: In den Ecken nämlich sucht die Kunst ihre Freiheit, an den Ecken, in denen sich jede strenge Form zur Freiheit offen weiß, kann Fluxus sich ereignen. Kein Fluxus also in der dorischen Ordnung. Stattdessen Strenge und Männlichkeit, jedoch nur mit einseitiger Aufrichtigkeit, denn die Lösungen der Griechen belügen ihre eigenen Regeln. Aber vielleicht wäre gerade hier etwas zu lernen? Wir zögern, denn es schmeckt nach Scheinheiligkeit, und heiliger Schein produziert nur wieder falsche Nachbilder, die uns zu lange beschäftigen und unsere wahre Mission auf die lange Bank schieben. Schieben ist zwar gut, besser noch wäre ein Verschieben, aber Bank ist schlecht, weil sie zum Sitzen und damit zum Stillstand einlädt. Zwar erlaubt die Bank, anders als der Stuhl etwas Bewegung im Stillstand, doch diese Bewegung endet doch nur wieder dort, wo sie angefangen hat. Andersanfänglichkeit findet sich auf Bänken nicht.
Wir aber finden uns heute an einem anderen Ort als gestern, denn das dorische Bein des Marquess von Anglesey erkennen wir nun als uns gestern noch zu heilig. Bejahen wollen wir es dennoch, stürzen seine Statue, erhalten das Podest. Denn Kunst ist Verlust und kann auch im verlustigten Körpersinn ein Verkennen hervorbringen in dem das zu Erkennende sich als Ecke zeigt.
Wir wollen gestehen, dass uns bereits bei dem gestrigen Abstieg, der uns so hell beschienen erschienenen war, dunkle Ahnungen in die Nase drangen. Denn Sieger von Waterloo waren auch die Preußen, war das Regiment Blücher. Denn die Sieger von Waterloo beschlossen die Restauration, zwangen die Freiheit in die Ecken. Man darf in dem gemeinsamen Feldzug bitte nicht eine Urgeschichte der deutsch-walisischen Freundschaft sehen, denn diese Schlacht war nicht die Suche nach Übungsplätzen eines Überlebens der Kunst, sondern war Gongschlag der zweiten Runde einer Aufteilung Europas unter nationalistischen Bannern.
Das Konzert Europas, das aus dem Wiener Kongress hervorging und eine Auslagerung kriegerischer Konflikte Europas in die Kolonien brachte und daher bis heute verfeiert gehört, allerdings sich noch immer gefeiert weiß, ist damit Schlachtgesang. Ein euphemistisches Gemetzel, das zwar unglaublich laut, aber für das europäische Ohren und Augen erst heute ein Organ entwickelt zu haben scheint. Das ist äußerst schmerzempfindlich, sollte es auch sein. Denn das gab die Notation des "Konzerts Europas" vor.
13.6.2020
Binnenvorwort Tŵr Marcwis III
Die Höhenluft tut weder den Abenteurern noch dem Text gut. Der Mangel am Lebenselixier Sauerstoff scheint zu Tagdelirien zu führen. Der Text glaubt, er sei ein Text von Alexander Luge und zeigt wie sich die Leben des Marquess von Anglesey und der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt einander zueilen. Französische-Britische Seelenverwandtschaft und doch eigentlich europäisches Schicksal. Aber am Ende werden Sie, liebe Leser, vermutlich urteilen: alles unkluge Wortstapelei.
Tŵr Marcwis III
„The weather proved unfavourable, which prevented that display of female beauty which so much adds so scenes of this description.” (aus: North Wales Gazette, 18. Juni 1816)
Ein Unding, wir deutsch-walisischen Freunde lassen die englische Sprache zu Wort kommen, eine Gemeinheit, denn wir lassen sie zudem noch sich selbst disqualifizieren. Als seien Frauen einzig als Bühnendekoration erwünscht. Da wollen wir das Wetter preisen, das so viel emanzipierter ist als der Journalist. Der freilich wollte vermutlich wohl lediglich möglichst elegant von der Grundsteinlegung der Säule des Marquess von Anglesey berichten und da ihm der bedürfenden Eleganz mangelte wollte er sie auch woanders fehlend sehen. Auf ihn einzufechten ist also eigentlich auch eine Gemeinheit, kann er sich doch weder verteidigen noch zurücktreten und so wollen wir den Seitenhieb auf die eigene Wange richten. Denn kaum besser sind unsere Texte, in der Frauen außer der Autorin selbst eher unterrepräsentiert sind, dafür wenigstens widmen wir uns selbst gebührend Aufmerksamkeit. Diese Überrepräsentation mag also Gleichgewicht herstellen.
Daher setzen wir das Schlechtwetterszenario fort und sprechen ein weiteres Mal über große Männer. Die hatten in den Texten zuvor hauptsächlich Niederlagen einstecken müssen oder misslungene Siege.
Ein misslungener Sieg war Waterloo deshalb, weil er – auch wenn geradezu ein paneuropäisches Unterfangen – zum Aufstieg der Nationalismen bei Heimatruhe durch Kolonialprofitgewalt führte. Ein misslungener Sieg, der auch die Niederlage des Gegners nicht süß macht, also auch Frankreichs Niederlage misslungen. Überall Verlust zu verbuchen. Die Säule des Marquess von Anglesey also durchaus lesbar als erhobener Zeigefinger: Hätte hätte Fahrradkette.
Ob Niederlagen und Siege misslungen oder gelungen sind, freilich stellt sich als Lehre zumeist erst mit der Zeit ein und so ertappen wir uns in ähnlich zukunftsarroganter Haltung wie gegenüber dem walisischen Journalisten, der über sein Eleganzbedürfnis stolperte. Stolpernde Eleganz führt uns zurück und fort, in unsere Vergangenheit und deren weibliche Zukunft, denn fast 100 Jahre, nachdem die Franzosen dem Marquess von Anglesey bei Waterloo sein rechtes Bein nahmen, verlor die französische Schauspielerin, ach warum so bescheiden, die französische Schauspielerin, Weltstar gar, Sarah Bernhardt ihr Bein, natürlich auch das rechte, denn der historische Zufall meint es gut mit unserem Ansinnen.
Verlor der Marquess das Bein für den Einsatz auf den Schlachtbrettern, die dem noblen Mann die Welt zu bedeuten hatten, verlor Sarah Bernhardt das ihre durch den passionierten Einsatz auf den eigentlichen Brettern, die die wahre Welt sind: Auf einer ihrer zahlreichen Welttourneen verletzte sie sich bei dem theatralen Sprung über eine Mauer so schwer am rechten Knie, dass ihr rechtes Bein Jahre später, eben 1915, amputiert werden musste. Da soll mal einer sagen, das Theater sei nur Schein und Rauch und habe nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Zumal 1915, als Sarah Bernhardt ihr Bein auch an das Theater verlor, wie schon 1815 Krieg herrschte, und – wir deuteten es bereits im Zwischenspiel (einem theatralen Dramaturgiekonzept) an – vermutlich lag 1915 in den Händen von 1815, als habe Europa 1815 mit dem Knie des Marquess auch das Denken verloren. Sarah Bernhardt, zu jenem verlustigen Zeitpunkt längst eine gemachte Frau, die schon alle Titel der Welt erhalten hatte, verschrieb sich nun jedoch dem Krieg, dem der Marquess von Anglesey nach 1815 nur noch sein Tanzbein gezeigt hatte. Ihren Verlust stellte Sarah Bernhardt im Übrigen nie aus, auch nicht den Soldaten, zu deren Unterhaltung sich Bernhardts improvisiertes Fronttheater, zu dem sie in einer Louise-quinze Sänfte anreiste, aufgemacht hatte.
Und so waren wir lange fest davon überzeugt, dass die Bernhardt – wie man wohl in solch berühmten Fällen zu sagen pflegt – ihre Wunde nie zeigte und offenbar nie mit dem Knie gedacht hatte. So glaubten wir uns also getäuscht in der Größe der Bernhardt, von der alle und alles kündet, wenn man den Namen sucht und findet. Wir glaubten, Sarah Bernhardt ebenso arrogant und eitel selbstverliebt wie uns in Momenten der Produktion und schlimmer noch Postproduktion, wollten mit ihr endlich uns Gericht sitzen und unser Urteil als moralische Mehrheitshaltung gegen Nationalismus und im Sinne der Deutsch-Walisischen Freundschaft auf die Fahnen schreiben, die wir sodann zu schwenken uns als Auftrag gesetzt hätte, sprich erlöst von der Suche in Selbstzweifel, der auch dieser Text nur eine weitere Spiegelung ist.
Doch ach, was wir Sarah Bernhardt vorwerfen zu meinen hatten, wäre doch eher gegen uns zu rechnen, die wir offenbar nie mit dem Knie zu denken gelernt hatten, sondern weiterhin unseren Augen vertrauen – und dessen, was sie zu sehen vermeinen, ohne richtig hinzugucken.
Doch ich greife wie immer voraus, schweife in Ahnungsvolles, das sich dann nicht erfüllt und uns alle, mich ja auch, nicht nur Sie, erfüllt einzig mit irregeleiteter Enttäuschung. Dem Sehen sei für das folgende allerdings noch einmal Vertrauen ausgesprochen, widmen wir uns doch im Folgenden dem Film, der in seinen Anfängen nicht nur stumm war, sondern auch weniger Bilder pro Sekunde auf unsere Netzhaut warf als es heute der selbstsichverlautende Film zu tun pflegt. Der Theaterstar Sarah Bernhardt galt dem französischen Theaterschriftsteller Edmond Eugène Alexis Rostand als Königin der Pose und als Prinzessin der Gestik, Victor Hugo ihre Stimme als golden. Das alles selbstverständlich Französisch, der originalen Beschreibung Klang steht somit der Schauspielerin wohl kaum an Eleganz im Ausdruck nach, das Deutsche ist zu entschuldigen. Das Goldene war freilich ein Preis, den Sarah Bernhardt, wollte sie auch Filmstar sein, dem neuen, stillen und farblosen Medium zu zahlen hatte, ein Geschenk aber ihre nobilitierte Pose und Gestik. Unser Auge darf bewundern deren nicht zu übersehene Größe, ihr aufrechter Gang wie ihre ausdrucksstarke Ohnmacht, sei sie Elisabeth I. oder Adrienne Lecouvreur. Doch wie aufrechten Gang und ausdrucksstarke Ohnmacht groß halten, wenn man sich selbst nicht mehr auf zwei Beinen halten kann? Denn Sarah Bernhardt weigerte sich ihr Leben lang eine Beinprothese zu tragen, verdeckte ihren Verlust mit fülligen Röcken, auf der Bühne ohne Auftritt und Abgang, im Film war sie – wie die Möbel – immer schon im Szenenbild, auf einem Stuhl sitzend, oder stillstehend, neben einem Stuhl oder einem Tisch, mindestens eine Hand abstützend. Als Mutter Frankreichs – so eine ihrer Rollen in dem Kriegspropagandafilm Mères Françaises
(1917) – bot sie ein fantastisches Bild: Im Lazarett nur sitzend dienend, konnte sie den Verwundeten und Erblindeten nie eine helfende Hand reichen, vielmehr waren es die vom Krieg gebrochenen Männer, Erblindete, Verwundete, die Sarah Bernhardt, die ihre Verwundung nie offen zeigte, Anker waren. So wurde das Rollenspiel als Rollenspiel, die Illusion des Films als Illusion sich selbst durchsichtig: Die wahrhaft Verwundete spielte die mütterlich Helfende, die ihr Helfenden spielten die Verwundeten. So fragen wir uns, die wir unseren Augen nicht rauen wollen, in der Aufrichtigkeit des Schauspiels, das nur falsch sich aufzurichten vermag und nur in der andauernden Gewissheit, dass die Aufrichtigkeit umzukippen droht. Was ist da noch Wahrheit, was Lüge? Und welche Wunde zeigt sich hier? Spielt es eine Rolle, welche Wunde wir wie und wo zeigen? Und wer der Verwundete ist?
Ihrer Gestik und ihren Posen beraubt – und damit doppelt verwundet – stellt auch Sarah Bernhardt ihre Wunde aus: Nicht in Marmor und nicht in der Größe, aber doch aufrecht und zwar in der Abwesenheit des Ausdrucks. Und das frontal. Denn frontal ist die Bernhardt in ihren späten Filmen der Kamera zugewandt, wie eine Säule, ihren Rücken der Tiefe des Raumes, in dem die anderen Schauspieler agieren, zugewandt, harrt sie ihres Auftrittes.
Sie ist der Mond, uns immer nur mit einer Seite zugewandt, denn auch die volle Drehung ist ihr nicht mehr zugänglich. Ihre Rollen sind Sprechrollen (auch im Stummfilm), die Kamera will sie also irgendwann frontal sehen, weil sie sich aber nicht drehen und wenden kann, muss sie von Anfang an in der Szene frontal positioniert sein.
Bewegungslos aber ist die Bernhardt durchaus nicht, sie ist geradezu hyperaktiv, aber im Verborgenen, nicht mehr im Ausdrücklichen, nicht mehr in der großen Pose und Gestik. Bernhardts Bewegungen sind Bewegungen, die Halt suchen. Ihre Hände sind hyperaktiv, berühren Mitmenschen, Stuhllehnen, Tisch, Sekretäre – alles mögliche, was rumliegt. Damit sind ihre Hände nie frei, haben ihre Expressivität verloren. Denn auszudrücken vermögen sie einzig noch die Verwundung, den Verlust – sind somit semantisch eindeutig und können sich nicht mehr verstellen, auch wenn sie sich Minisäulen permanent neu ausrichten. Zu Gestik sind die Arme und Hände so wenig fähig, wie das alleingelassene Bein zur Pose. Zweckgebunden und verfolgt von der Angst, den Halt zu verlieren und dadurch die Verwundung offenzulegen, stellen sie doch gerade diese aus.
Nun fragt sich, ob hier das verlorene Knie wie Hamlets Vater in den Händen weiterspukt? Es gilt also zweimal hinzuschauen, unseren Augen nicht auf den ersten Blick zu trauen. Zweimal hinschauen: Im Eintreffen des belichteten Filmbildes auf unserer Netzhaut und in dessen dunklem Nachglühen, das Körperwissen des Auges also nicht so unmittelbar wie das Wissen, das der Körper von sich neben der dorischen Säule des Marquess von Anglesey ersteht. Womit wir – weitaus eleganter als der anfängliche Journalist – den journalistischen Bogen zur Säule finden. Scheiterte Sarah Bernhardt an Architektur, verlor sie an der Mauer ihr Bein, so konnte sie als Architektur doch auch wieder ihre Aufrichtigkeit, ihre Pose gewinnen. 1915 schrieb Eugen Morand den poetischen Einakter Les Cathedrales, ein szenischer Architekturtraum, in dem sich sechs Kathedralen Frankreichs über ihr Kriegsschicksal unterhalten, darunter als Kathedrale von Strasbourg, Sarah Bernhardt. Sie, wie ihre Mitstreiterinnen, auf der Bühne unbeweglich auf einem Stuhl zur Architektur geworden, erhebt sich jedoch in ihren Schlussworten, die der Niederlage Deutschlands gelten, in die königlich aufrechte Pose mit wohl goldener Stimme deklamierend:
„Pleure, pleure, Allemagne
L'aigle, l'aigle allemand est tombé dans le Rhin!“
Das freilich, wir ahnen es bereits, für uns ein misslungener Sieg.
Binnenvorwort Ynys Faelog
Verneigter Leser mag nach der Lektüre das Buch zu schlagen. Denn das Ich scheint doch endlich das Glück passiert sein, das mit der Deutsch-Walisischen Freundschaft ersucht worden war. Ynys Faelog ist eine abseitige Insel der abseitigen Insel Ynys Mon, beide nur Inseln dank des Menai Straits. Dies ist das Terrain, in das der Text zu Anfang aufbricht. Anders als vorgängige Wortstapelei, hält das Ich sein Knie hier zum Flachen gehoben und wird dadurch vielleicht erst zugänglich wie auch Ynys Faelog zugänglich wird. Wir versprechen Ihnen nicht zuviel und wollen zugleich doch empfehlen, das Buch so flach zu halten, dass auch der stärkste Windstoß es nicht zuzuschlagen vermag. Denn das Ende als Anfang, das hier am Ende zum Anfang verendet, ist bereits eingetreten. Noch nicht für Sie, wohl wahr. Bleiben Sie aber lesend, holen Sie uns gewiss bald ein, sagte der Igel und wusste von nichts als von dem toten Hasen, der ihm die Texte erklärt. Seien Sie lesend und erstehen am Ende eine Handvoll Erkenntnisse zum Bestpreis.
Ynys Faelog
Ein besonderer Tag! Ein Tag, der nicht als ein suchender sich verstand und vielleicht daher so viel offenbarte. Vielleicht einst deutsch-walisischer Feiertag? Wir wagen es nicht zu hoffen. Vor allem aber wissen wir heute, nach diesem besonderen Tag, dass wir es vor allem nicht erwarten sollten, denn was eintritt, ist zumeist Unerwartetes. Bringt Unerwartetes Glückseligkeit war es wahrscheinlich auch Unverhofftes, sprich noch nicht zu Ende Gehofftes, noch nicht verbraucht, noch ein Glutkern, aus dem neue Flammen entstehen können. Ganz Fluxus also.
Doch wir greifen wieder einmal voraus. Dabei sind wir diesmal ein ich, denn alleine brach man auf, weder zu Bummel noch zu Kunstaktion, noch zu Abenteuer, sondern zu einem Spaziergang, der – so die fröhliche Aussicht – hier und da Freundeskontakt bedeuten sollte. Doch egal welche Tür ich beklopfte, nie fand ich sie offen noch sich mir zu einem Freund öffnend. Alles vereinsamt, vor allem ich selbst. Kein Zeichen von Leben, von Freunden, wenigstens auch nicht von Feinden. Ich also allein, mit mir selbst an der Front, die diesmal wenigstens außen liegt. Ich merke eigene Stärke, vielleicht schreibt sich daraus ein Ratgeber.
Doch eigentlich merke ich schnell, der einzige Rat, der heute zu geben ist, stammt von einem Angler. Die Felsen seien rutschig, ich solle aufpassen, er selbst kann nur Rat geben aus eigener Erfahrung, und die sei schmerzhaft gewesen, vor allem fürs Herz. Das nämlich kommt seinem Fall nur selten nach, man also ausgerutscht wie mit verlorenem Herzen dasteht. In unserem Falle freilich wäre es nur kurzzeitig, denn am Menai Strait gibt es keine tiefen Stürze – das ja auch der Grund, warum wir hier das Scheitern üben wollen.
Ich also Ratnehmer, kehre zurück, denn mein Herz ist bereits woanders, weil mit Freunden nur in Erinnerung und Zuversicht, nicht Ansicht. Jetzt, wo ich das hier schreibe, weiß ich natürlich viel mehr, meine Fluxusfreunde sind immer bei mir, auch wenn ich ausgerutscht wäre, sie hätten mein oben verlorenes Herz aufgegriffen und mir schnell wieder zugetragen. Denn, lassen Sie sich nun in aller Ruhe berichten, was sich zugetragen hat, mir, alleine diesmal auf einem Spaziergang, auf dem ich endlich mal nicht mich selbst zu finden gehofft hatte – sondern Freunde.
Auch ein Abenteuer nicht, denn beschlenderte Gegend war mir schon bekannt, ich erhoffte also nichts Neues zu finden. Ja, die Gegend war mir – so sehe ich jetzt – gewissermaßen Freund, ein freundliches Gesicht, vertraut und besonders im mittsommerlichen Abendlicht Kraftquelle. Vertraute Wege schlug ich ein, obwohl es ja nichts zu schlagen gab, befand ich mich doch inmitten von Wohlgesinntem, Freundschaftlichen. Zugegeben, man war eine Weile abwesend gewesen, fort, auf einer Reise, wie wir ja auch die Fluxusboote auf Reise geschickt hatten. Doch die Rückkehr lag schon wieder einige Kalenderblätter zurück.
Da man sich also weder auf Abenteuer noch auf Suche vorprogrammiert hatte, fiel es mir auch nicht ein, Abseitiges aufzusuchen. Wollte Fluxus sich ereignen – ich selbst verschwendete keinen Gedanken daran –, so müsste es schon mich aufsuchen. Und so geschah es wohl auch. Denn wie sonst wäre ich vom Wege abgekommen, wie sonst hätte ich mich vom Niedrigstand des Menai Strait bei Ebbe verführen lassen können, einen vormals schon getätigten Abstecher von Hauptpfaden abstechend zu verdoppeln, hineinzutragen in den sich auf Rückzug befindenden Menai Strait? So lockt der Fluxus, vielleicht ist es auch kein Locken, sondern Jagen, denn erinnern wir uns, wir hatten die Kunst bereits als Raubtier beschrieben. Doch verorten wir mich: Auf Ynys Faelog, der kahlen Insel, die in Camouflage verwächst, sich also permanent natürlich ver-stellt. Das freilich erkenne ich erst jetzt, wo ich dies schreibe, denn weder wusste ich Ynys Faelog als Ynys Faelog noch faelog als das Walisische für kahl. Hätte ich es an diesem besonderen Tag bereits als Wissen bei mir getragen, so hätte sich vielleicht nicht das Wunder zugetragen, welches dieser Beitrag seit mehr als einer DinA4 Seite in Worte einträgt und doch nie austragen zu wollen scheint. Denn einen Zustand erreicht zu haben, in dem die eigene Natur nicht anders kann als sich im Selbstsein zu verlieren aus dem, was man buchstäblich sein sollte, ist ein magischer Fluxuszustand, den wir einst auch erreichen zu hoffen streben.
Zudem Ynys Faelog umflossen und doch oft verlassen vom Menai Strait, so wie an jenem besonderen Abend, an dem der Menai Strait Ynys Faelog kaum noch berührte. Die Insel also ähnlich verlassen wie ich – könnte man kurzschließen und ist auch wahr für den Moment, indem Verbrüderung stattfand zwischen mir und Ynys Faelog, die wir uns fern der Freunde wähnten. Zumindest wähnte ich Ynys Faelog und mich selbst so erwähnt. Und heute, wo ich das hier schreibe, wähne ich nicht nur, sondern glaube fest, dass Ynys Faelog sich zur Verbrüderung ver-stellte, ich mich also öffnete – und somit das Heiligtum, als welches sich die kahle Insel der mir geöffneten zeigen sollte, mir erst sichtbar werden konnte.
Denn, ich deutete es bereits an, was geschah? Ich entschied mich die Randgebiete der Insel zu beschreiten, dort, wo die Insel sich selbst an den mondsüchtigen Menai Strait verliert und zurückgewinnt. Zum Teil mir vertrautes Grenzland bzw. Grenzfluss, doch wagte ich mich an jenem Abend doch weiter, natürlich nur, weil mich der Menai Strait auf Rückzug dazu verlockte. So verführt, tappte ich in eine Bucht, an der ich schon viele Male gewesen, an der ich schon viele Male vorbeigezogen, auf der ich schon viele Male vertreten war – und die mir doch, so erkenne ich es jetzt, nie einsichtig geworden war. Es bedurfte erst einer Perspektivverschiebung, eines versetzten Fußes, einer unüblichen Kniearbeit über unerklommene Felsen, um zu sehen, was sich dort zu sehen gab:
Eine Heilige Stätte des Fluxus.
Kaum hatte mich mein Knie um die Ecke gebogen, ich verschobene Einsicht in die Bucht mir selbst erhalten, befüllte sich mein kleines Herz mit Glückseligkeit, denn ich erkannte, was ich so lange verkannt hatte. Ich sah Joseph Beuys‘ Boxring für den „Boxkampf für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ von der documenta 1972 gestrandet als Airfloat-Experimentalfloß an den verebbten Ufern des Menai Strait (siehe Foto / Video). Mehr noch, der Floßring trug, so erkannte ich, als ich mich der Fluxusreliquie näherte, eine Transformationsskulptur Joseph Beuys‘, die sich selbst aus Filz, Kupfer, Fett in eine solarbetriebene Kraftstation verwandelt hatte, die dem Experiment des Floßes seine Messgeräte betreiben sollte. Beides Floßring wie Solarskulptur, und hier erkannte ich die heilige Größe dieses Fundgrundstückes Ynys Faelog, längst verlassen nicht nur gestrandet. Aufgegebene Nutzstücke, dem Menai Strait und der Bucht überlassen und somit der Neuen Walisischen Kunst ein Appell, ein Anzeichen, eine Zukunft. Aus dem Jahr 1972 in das Jahr 2020, einst Fluxus und nun wieder Fluxus – zu gestaltende Deutsch-Walisische Freundschaft. Hatte ich mich allein geglaubt, erkannte ich mich nun gesegnet, ja auserwählt. Die Deutsch-Walisische Freundschaft ist wahrhaftig, hier wurde Zeit zu Raum, geflutete Vergangenheit zu beebbter Zukunft.
Ich umschritt die Monstranz, die ich erst jetzt, in dieser Sekunde, wo sich das Wort in meine Finger legt, als eine solche erkenne, da ich sie als solche im bewegten Bild unerkannt benutzt habe (siehe Video). Halten wir also fest: Nicht nur Joseph Beuys trug sich hier als Gestrandeter zu, sondern auch Christoph Schlingensief, ohne eine Zukunft der Kunst, ein Überleben von, als, mit, zu, bei, in Kunst ohnehin niemals möglich gewesen wäre, wäre und wäre. Doch an jenem Abend, kaum trat ich näher und tiefer in die Bucht, fand ich weitere Zeichen, die alle Zweifel, die einst noch in uns aufsteigen mögen, vertrieben. Nicht nur fand ich zu den Füßen keltische Steinzeichen, meine sich zum Götterhimmel aufrichteten Augen blieben auf halber Strecke an einer uns umfassenden Galerie der keltischen Steinzeichen haften. Wie hatte man das so viele Jahre übersehen können?
Fassungslosigkeit angesichts des blinden Glückes. Ich taumelte, entschied den Rückweg einzuschlagen und fand mich selbst als Taumel ein weiteres Mal versetzt dem Zugang des Fluxustempel gegenüber. Der umwachsen von verstellender Natur, Eichenlaub und Stechpalme. Mein Taumel warf mich zurück in die Bucht. Hatte ich etwas übersehen, noch immer blind? Und ja, nur wenige Schritte, also Kniedenken, entfernt fand sich Wolf Vostell, den ich heute allerdings eher als Alan Kaprow grüßen mag. Ein Autoreifen, vielleicht versendet aus dem Jahr 1973? Oder eben doch Alan Kaprows Gruß aus dem Jahr 1961?
Erinnern wir uns, wir wussten die Deutsch-Walisische Freundschaft gegründet in Wuppertal und Wolf Vostell, doch erkennen den Grund dieses Gründungswissen erst heute, hier an dieser Heiligen Stätte des Fluxus: Wie sollte es aber auch anders sein, denn wissen wir doch längst: Die Ursache liegt in der Zukunft. Unsere Deutsch-Walisische Gründung im März 2020 verursacht im Juni 2020. Das tätige Warten auf die Vergangenheit, aus der wir unsere Zukunft gestalten mögen. Weder Autoreifen, noch Steinkeltik oder Floßskulptur wollen sein, was sie sind, sondern schenken sich uns zu Material für Neue Walisische Kunst.
Ein großer Abend, unerschöpfliche Glückseligkeit. Denn diese ungesuchte Fund ist nicht Ende, sondern Anfang.
Binnenvorwort Cwt Cwch I
Freuen Sie sich auf die Rückkehr einer Glückseligen ins Zwischenreich der Inseln Ynys Mon und Ynys Faelog. Dort erfahren wir vom doppelten Spiel, das die lügende Lüge zur Wahrheit verrechnet. Freuen Sie sich auf Punkt, Satz und Sieg. Gehen Sie bereichert in die Videothek und verleihen sich. Zuvor aber uns ihr Ohr bzw. Auge. Denn zu sehen gibt es viel.
Cwt Cwch I
Teil I - Schlagfertig
Wir kehrten viele Male an den heiligen Ort zurück. Wir, das waren je andere, ich aber war die Konstante. Je andere nicht im philosophischen Sinne dessen, dass wir als andere zurückkehrten, sondern im alltäglichen Sinne: Die Abenteurer, die sich mir anschlossen, waren mal mehr, mal weniger, stets Personalfluktuation also. Wir, als Gruppe, ein Wechselbalg.
Anders aber auch mein Zustand, der weiterhin in erleuchteter Seligkeit glühte, alle Zweifel außer Reichweite. Erschöpfung hatte sich nicht erneut eingestellt. Ich, eine Jean d’Arc, wenn auch mit langen Haaren. Tatendrang. Fluxuswahn.
So kam es also, dass ich außerhalb meiner inneren Katastrophe weilte und weiter ins Heilige vorzustoßen gedachte, rückblickend, nun am Schreibtisch mit der Sonne auf dem linken Unterarm, gestehe ich ein: Es war ein attackierendes, ripostierendes Erkunden. Von Avantgarde kann hier nicht mehr die Rede sein, denn man war ja schon einmal dort gewesen. Dort: Ynys Faelog, die kahle Insel, heilige Stätte des Fluxus. Doch halt. Nicht ganz Ynys Faelog diesmal, sondern Kleinstvorinsel zu Ynys Faelog, gelegen zwischen Menai Bridge und Ynys Faelog, eine Sandbank, Nähe suchend zur betonierten Rite de Passage. Damit ein Ort höchsten Transformationspotentials, was ich erst jetzt erkenne. Während der Riposte kam es mir nicht in den Sinn, wie auch, wenn meine seligen Sinne unzugänglich waren wie die Sonne und einzig sich selbst ausstrahlten. Jetzt aber, da mir mein linker Unterarm sagt, dass nicht ich die Sonne verstrahle, sondern sie mich bestrahlt, zeigt sich mir diese Zwischenstation als tatsächlich liminaler Ort zwischen Inseln, zwischen Zuständen, und doch selbst ein Zustand. Wie immer greife ich, wie es meine Art ist, voraus, glaube hier und jetzt eine Erkenntnis zu antizipieren, die sich am Ende des Textes doch nicht erfüllt haben wird.
Weiteres anderes vorauszuschicken – also gewissermaßen Informationsavantgarde – fühle ich mich verpflichtet, in diesem Fall, denn anders auch war diesmal mein unglaublicher glückseliger Zustand, der diesmal auf die Katastrophe trifft. In vorherigen Texten, zum Beispiel auf Normal Site war es ja eher so, dass der katastrophale innere Zustand, in dem man sich wusste, von äußerer Schönheit und Harmonie kontrastiert wurde. Diesmal scheinen die Positionen wie ausgetauscht. Das ist jetzt wieder ein neuer Gedanke, der in dem folgenden selbst noch nicht erfasst ist.
Glückseligkeit hat keine Bodenhaftung und so ist es schwer das Wort zu ergreifen. Vielmehr müssen die Worte einem zufliegen. Das können die wenigsten, meistens nur die leichtfertigen, wie der aufmerksame Leser bereits vernommen haben mag. Daher bitte wir um Unaufmerksamkeit, Zerstreuung verlangt Zerstreuung, sonst kann Dichtung sich nicht ereignen.
Die Bodenhaftung, die mir fehlte, fand sich hingegen woanders. Die Naturgesetze streben nach Ausgleich, wie Ebbe und Flut. Wir kamen zur Ebbe, zu dritt, in dem Glauben, auf der Sandbank, die wir als solche noch nicht wussten, ein perfektes Bühnenbild für eine Filmszene gefunden zu haben. Nicht uns selbst wollten wir also in diese Landschaft einschreiben, sondern andere Spielkameraden als unser selbst. Spielkameraden uns, doch Spielkameraden auch sich selbst, denn es galt eine Filmszene nachzustellen, in der zwei rivalierende Brüder Federball spielten. Ist Federball eigentlich, so eine Überlegung, die sich in meine Schreibszene schleicht, nicht eigentlich so eine Art indirektes Ripostieren – das Kräftespiel, dass der Federball auszutragen hat, das Indirekte? Nehmen wir dieses Zugeflogene auf, bringt es uns erstmal nicht weiter, weder bildlich noch gedanklich. Und doch gerade in diesem Abbruch des aufgeschwungenen Denkvorstoßes verdoppelt sich, was sich in dem ausgetragenen Federballspiel ereignete. Wie dies Spiel sich zu verlaufen habe, war von dem Drehbuch, dass ohnehin nicht existierte, im Übrigen nicht vorgegeben. Denn die Spielkameraden kamen über den Aufschlag nie hinaus, sei es, weil bereits dieser so sehr gelang oder misslang, dass er Aufschlag blieb und sich nicht in ein Zuspiel verwandeln könnte. Sei es, weil die gespielte aktive Aggressivität zwischen den gebrüderten Schlägern, falsches Spiel nur zuließ, sei es, weil die Bodenhaftung, die uns fehlte, am Federball seine Genugtuung verlangte. All das nur zu entscheiden, wenn man sich entscheidet, ob man Federball eigentlich miteinander oder gegeneinander zu spielen ist. Worin versteht es sich als schlechtes Badminton: in seinem Dilettantismus oder in seinem Zueinander? Und wäre der Dilettantismus, der – wenn auch nicht von uns – von vielen nur als Vorwurf verstanden wird, aus Sicht dieser Missverstehenden (oder sind sie die Verstehenden?) in eben der unprofessionellen Ausführung des Zueinander (als mit und nicht gegen) zu verstehen? Der Profi führt also entschieden, entscheidenden und zu entscheidenden Krieg, der Dilettant hingegen sucht das Zuspiel, versucht auch die Verirrung des Gegenüber noch federleicht zu nehmen und mit seinem Schläger abzufangen. Treffer bleiben hier gewissermaßen aus, während sie im Badminton sich häufen. Was bedeutet dann Schlagfertigkeit. Ein Können oder eine Bereitschaft? Zum Krieg oder zum Zuspiel?
Schlagfertigkeit zumindest könnte ich auch bei meinen Mitspielern beobachten, Allerdings gerichtet darauf, dass man gemeinsam das Ziel erreichte diese Szene so zu einem Ende zu bringen, dass man zum einen den Auftrag der Regisseurin ausführte, und zugleich sein Gesicht wahren konnte. Also auch diese Schlagfertigkeit eine leichte, ein Federspiel, eben ein sich Zuspielen. Das Können hier also auch eine Bereitschaft zu diesem Können. Die Szene, die eigentlich den Bruderzwist zeigen sollte, zeigt sich hier also in der dilettantischen Ausführung als eine Szene größter Solidarität. Das Schauspiel also zeigt eine Wahrheit, die nicht dem Stück (das hier ein Film ist), sondern die dem Spiel eigen ist. Wie großartig, dass ich hier nun verkünden darf, dass der Film, der hier nachgespielt wurde, den wunderbaren Titel „Mutters Maske“ trägt. Ein Film von Christoph Schlingensief, der uns auch jenseits dieses Film Projektes auf dem Banner geschrieben ist, erinnern wir uns: man muss sich selbst Fallen stellen, nur durch Schlingen kommt es zum Sieg. Die falsche Fährte, auf die uns das Schauspiel führt, in dem es und dem Bruder Zwist vorführt, ist die Schlinge, die uns am Ende in dem was sie uns anfänglich zeigte, die Wahrheit triumphierend sehen lässt: den Sieg des Zuspiels der Schauspieler.
Ich will nun den narrativen Bogen, der auf dieser Seite von mir fabulierend aufgespannt wurde, schließen, und damit ja eigentlich auch erst herstellen. Erinnern wir uns, was ich zu Beginn erwähnte. Meine leichtfertige Glückseligkeit verlangte die Bodenhaftung an anderem Ort. Diesen hatte ich im Federball zu erkennen gegeben. Damit meine Glückseligkeit Voraussetzung dieser sich uns im Schaubild offenbarenden Wahrheit. Das Schauspiel ist ein Spiel des versteckten Zeigens.
Gewissermaßen eine Live Schaltung aus der Schreibszene. Die Glückseligkeit, die ich noch als Gefahr erkannte beziehungsweise verkannte, tritt wieder in mein Herzen. Denn weil ich weiß, was ich mir vornahm noch zu schreiben, und was noch nicht geschrieben ist, ist doch nur wie ich jetzt erkenne, Eine Verifikation dessen, was ich so gerade beschrieben habe. Das aber, was ich gerade beschrieben habe, war etwas, dass ich nicht vorgesehen hatte zu schreiben. Es schrieb sich, es ergab sich, erst im beschreiben Des Schauspiels, dass ich bislang nur beobachtet hatte. Beziehungsweise mit meinem Smartphone aufgezeichnet hatte. Wie ich jetzt erkenne habe ich damit auch das Denken ausgelagert gehabt, dass ich mir erst jetzt im Schreiben wieder habe aneignen können. Diese Anmerkung aus der Schreibsehne nur ein Zwischenspiel, aber doch auch Eine Vorbemerkung mit Nachdruck, denn sie ist ein Zuspiel zu dem, was nun noch kommt. Denn das, was ich mir zu schreiben vorgenommen hatte, notierte auch das versteckte Zeigen, oder leicht verbogen gedacht, ein Zeigen von Verstecktem oder ein Zeigen durch Verstecken.
Binnenvorwort Cwt Cwch II
Wir bleiben anstandshalber voller Andacht stehen, wie vom Geistesblitz getroffen und gegen unsere Natur, die ja die Perspektivverschiebung ist. Doch bereits in unserem Badmintonspiel hatte sich Bewegungslosigkeit doch nur einem sportlichen Blick gezeigt, ein entschulter Blick aber wurde vor Wendung und Drehung fast schwindelig. Aus diesem Schwindel, der natürlich auch wieder nur eine unter vielen Lügen war, treten wir in Cwt Cwch II heraus, verlangsamen alles, was der Fall ist und was Verfall ist. Verfall zeigt sich den Helden unserer Geschichte ja immer wieder, auf Ynys Faelog aber gewiß jedem, auch einem sportlichen Blick, denn Ynys Faelog hat ein Bootshaus, das verfällt.
Dessen Verfall ist aber besonderer Art - und dieser kommen wir hier gemeinsam auf die Schliche. Dabei fallen große Theorien, aus der einen, an die Sie vielleicht gerade denken mögen. Studierenden der Geisteswissenschaft sei dieser Text besonders zum Verschlingen empfohlen, vielleicht ist Ihnen damit das Thema Ihrer Abschlussarbeit endlich zugefallen…
Cwt Cwch II
Teil II – Epistemikonie
Kaum hatte man die Schläger eingesteckt, richteten sich die Blicke vom Zueinander in die Landschaft. Diese aufgeladen von Bedeutung, klebrig vom Kitsch der Ruinenromantik: schwer nur wäre dagegen anzukommen, zeigte sich der Kitsch nicht selbst als Kitsch dadurch, dass er das holzmodernde Schiffswrack in dreckigem Schlamm und Zivilisationsmüll situierte. Ein Maler müsste schon sehr viel verstreichen für ein Flohmarktbild. Wenig Interesse ohnehin weckt das Schiffswrack in mir, auch wenn ich es andernorts als Fluxusereignis feiern könnte. Heute, inzwischen ein Morgen, denn das Heute, das man eben noch lesen hatte können, ist inzwischen ein Gestern, jetzt also, will ich mich aber interessieren für die Ruine, die eine Rostlaube ist. In Rostlauben hatte ich im Übrigen studiert, daher ziehen sie mich bis heute an, verstehe ich sie immer als Zugangsort zu Wissen. Daher entsprechend groß wohl meine Ahnungen, als wir uns dem verfallenen Wellblech zuwendeten, das sich noch zu einem alten Bootshaus zusammenhält. Längst ein Haus ohne Rein- noch Rauskommen ist es hauptsächlich Blickfang. Von Verfall kann im Worte nicht wahr gesprochen werden, denn Wellbleche verfallen am Menai Strait nicht, sie rosten. Die Gezeiten arbeiten, die Flut trägt das Wasser zum Material und damit auch das Salz, die Ebbe erlaubt das Licht und den Sauerstoff, man spielt sich gewissermaßen zu: das Material arbeitet an sich selbst vielleicht. Doch da spreche wieder mal nur ich, die jetzt rückblickend, auch an dieser Zwischenstation Joseph Beuys walten sieht, der den eigenen Verschleiß als lebendiges Gestaltungsprinzip euphemisierte. Die Metapher der Gezeiten ist natürlich eine unglaublich traurige, weil sie lang-sam ist, träge, ihr fehlt jeder Schwung. Das Langsame ist merkwürdiger Weise mit dem Verlangen verwandt, das ja – deswegen vielleicht gar nicht merkwürdiger Weise –, wenn es uns immer wieder (also auf lange Hinsicht) triezt, fade wird. Langsame Metaphern sind wie müdes Verlangen: Man wünscht sich deren Fluten. Wir wollen daher die Gezeiten nicht metaphorisch lesen, sondern nehmen als das, was sie der Rostlaube sind: chemische Kinetik: Sie zersetzen das Wellblech des einstmaligen Bootshauses. Für uns ein Glück, denn so verschlossen und verrammelt es verlassen wurde, wird es doch gerade rostend wieder uns zugänglich. Der Rost erlaubt den Durchbruch ins Innere, Durchbruch im wahrsten Sinne des Wortes diesmal, denn da wo das Material an sich arbeitete – also an den unteren Schichten – ist mit Leichtigkeit Blech um Blech abzubrechen.
Das taten wir. Kaum standen wir im Inneren, die Ruine selbst uns also unsichtbar geworden, öffnete sich vor uns eine Katastrophenlandschaft. Die scheint mit der katastrophalen Kinetik des Wellblechgehäuses zunächst nichts zu tun zu haben. Uns zumindest erlaubt sich die Verbindung nicht, sehen wir die eine Katastrophe doch nur, wenn wir die andere nicht sehen. Denn wenn auch vom Rost durchfressen, durchsichtig ist die Blechhütte noch nicht, wird es wohl erst sein, wenn an ihr die Katastrophe der Kinetik Vollendung war, vielleicht bei steigendem Wasserspiegel und saurem Regen in 40 Jahren. Der jetzige Zustand der Rostlaube war uns also aus deren Innerem unansichtig, Zugriff auf ihn hatten wir nur als Erinnerung.
Das Blechhaus in seiner Zersetzung birgt also ein Geheimnis des Scheiterns, das man ihm – deshalb eben Geheimnis – nicht ansieht. Was man der Blechhütte ansieht, ist das, was sie offenbar zeigt, nämlich ein anderes Scheitern als das, das sie birgt. Sie verbirgt damit im eigenen Scheitern ein anderes Scheitern, in der eigenen Zersetzung den anderen Zerfall.
Nun befanden wir uns selbst in Zwickmühlen, und in denen stecke ich auch jetzt noch. Ich führe vielleicht eine aus, die anderen überlasse ich Ihnen, liebe Lektürenden.
Zunächst: Warum muss ich von Katastrophe und Scheitern sprechen, und was meine ich damit? Sie sind beide eigentlich völlig unangebracht für die Landschaften, die wir da betraten und betrachteten, denn die Katastrophe ist kein Zustand – wir sprachen ja von Zwischenzustand –, sondern ein Umschlagpunkt des Tragischen, das in der Katastrophe sich aufhebt; das Scheitern wiederum würde implizieren, dass der Rost nicht das Ziel der Arbeit, der Zustand der Blechhütte also ein falscher wäre – gleiches gälte auch für den Zustand, der in ihrem Inneren vorgefunden wurde. Beides ist hier aber aus mehreren Gründen nicht das, was augenscheinlich anzutreffen war von uns, durch uns, mit uns, in uns – und weil von uns, durch uns, mit uns, in uns. Zum einen will der Menai Strait die Arbeit an der Peripherie seiner selbst, denn der Rost ist ihm eine Bereicherung, die Blechhütte könnte zum anderen durchaus den Menai Strait wollen– denn irgendwann wird die Zersetzung des Wellbleches zum Zerfall werden, und das, was da jetzt noch steht, sich endlich fallen lassen können in die hoffentlich dann starke Flut. Für uns, die wir immer darauf hinarbeiten, Standpunkte aufzugeben, ist die Kinetik des Rostes nur ein weiteres Beuys’sches Prinzip, das sich hier – am Rande der Heiligen Stätte des Fluxus (Ynys Faelog) materialisiert (und selbst betrachtet). Und ähnliche Fragen muss ich mir stellen für die innere Landschaft: Sagte ich nicht, für mich sind Rostlauben Orte des Wissens? Ja, auch Scheitern kann Wissen sein, meine Begrifflichkeit also durchaus angebracht. Doch will ich behaupten, der Rost reicht doch tiefer als ein Wissen des Scheiterns. Ist es nicht so, dass das Geheimnis, das der undurchsichtige Wellrost verbirgt, eine seemannswissensreiche Welt ist. Die wiederum ist als geborgene verborgen, als verborgene geborgen – und genau in dieser Gleichzeitigkeit das von uns zu bergende Wissen? Keine Rede also soll hier von Scheitern sein, keine von Katastrophen. Zugegeben, Scheitern und Katastrophe mögen durchaus semantisch allegorisieren und verdienten es erdacht zu werden. Doch seien wir einmal ehrlich: Haben wir das in den letzten Texten nicht zu Genüge getan? Wir sind es leid. Wir wollen endlich einmal von etwas anderem Reden. Ja, liebe Leserschaft, ihr Verdacht ist berechtigt: Ich mag mir vom ewigen Gerede über Katastrophen, Niederlagen und Scheitern nicht die Glücksschwebigkeit verpusten lassen. All das nicht von der Hand zu weisen, wir wollen es aber tun, um die Hände frei zu haben, die viel kostbarere Erkenntnis zu ergreifen und das ist die Erkenntnis der Erkenntnis. Ja, ich will behaupten und aufzeigen. Mit der Rostlaube vor Ynys Faelog liegt ein epistemisches Bild vor uns. Wir versuchen uns im Folgenden also gewissermaßen an einer Epistemikonie.
Die Epistemikonie konstatiert zunächst: Welch uneinsichtige Situation aber auch: Sie, die seemännische Welt ist verborgen, indem sie geborgen sich findet in der Blechhütte. In deren Obhut geschützt vor Ebbe und Flut, noch behütet vor Eindringlingen, die sie als Geheimnis erkennen könnten. Erkannt werden ist – ich führe das später noch aus – unbedingt zu vermeiden.
Die Epistemikonie verbucht weiter: Sie, die seemännische Welt, konnten wir entbergen, nur indem wir ihre Geborgenheit durchbrachen. Diese Geborgenheit, das sei unbedingt hinzugefügt, ist selbst verborgen. Denn wer würde vermuten, dass eine Rostlaube Schutz zu bieten vermag? Wir also Eindringlinge, ohne es zu wissen, denn wie hätten wir von der Geborgenheit ahnen können, die uns doch verborgen lag. Das bedeutet, das Geheimnis, welches wir fanden, war keines, das wir gesucht hätten. Das größte Risiko verborgen geborgener Geheimnisse ist somit der Zufall. Unser blindes Eindringen war also nicht das in eine Landschaft, die eine einstige Katastrophe allegorisierte, der wir ansichtig hätten werden können, sondern es war ein Durchbruch der Geborgenheit und ein Aufheben des Verbergens und somit Einbruch der Katastrophe: Die Katastrophe hatte also nicht schon stattgefunden und wir waren nicht Betrachter ihres Schlachtfeldes, sondern wir waren die Katastrophe, denn im Bergen des Geheimnisses hob sich dieses auf, das nur in der verborgenen Geborgenheit sich ergab. Wir können hier also nur von etwas berichten, das es so nicht mehr gibt. Dieser Text spricht also von etwas, das so nie mehr ansichtig sein wird. Die Erkenntnis kennt sein Erkennen nicht, es ist ihm abhandengekommen – denken wir an das früher benutzte Bild: der Erkenntnis ist sein Erkennen unbegreiflich.
Die Epistemikonie daher eine performative Forschung: Die Denkbilder, in die sie blind hineinstolpert, verschwinden, sobald sie ihr zum Gegenstand werden. Denn Epistemikonie entbirgt verborgenes und wahrt einzig das Geheimnis, das ihr ihre eigene Bewegung aus der Verborgenheit ist. Daher ist Erkennen so unheimlich und löst in uns so viel Schaudern aus (Vorsicht: Freud).
Die Epistemikonie gründet also auf ein sich bildlich darbietendes Wissen von Bedingungen der Erkenntnis. Diese sind: Geheimnisse bergen gelingt nur im aufhebenden Eindringen in geborgene Verborgenheit. Epistemikonie ist aber noch mehr: Sie ist das Bild, das in sich die performative Unbegreiflichkeit der Erkenntnis vorführt, ein Bild also das nach seiner Verbildlichung des Wissens, sich selbst aufhebt und damit auch das in ihm geborgene Wissen davonträgt. Jedes Erkennen daher eine Katastrophe.
Das führt uns wieder zurück zur Katastrophe in der und der Rostlaube. Nicht nur müssen wir erneut, wie in allen unseren Texten, von all dem anfangs Gesagten Abstand nehmen, sondern müssen zudem das einst Verworfene wieder einsammeln. Die Katastrophe hatte ich nicht gelten lassen und nun spült sie die Flut meiner Gedanken doch wieder in meine Hände. Ich will sie drehen und wenden: Es ist eine andere Katastrophe als die, von der ich anfangs sprach, auch wenn sie sich gleich schreibt.
Hausaufgaben statt Abendbrot (Brecht)
Wäre also Verborgenheit eine Art von Geborgenheit? Zu denken vielleicht wäre an die Seele, von der Christoph Schlingensief sagt, dass sie gefressen werde, sobald sie auch nur die Fühler aus der Verborgenheit ihrer selbst ausstrecke.
Nachtrag nach Abendbrot
Wir glauben uns erinnern zu können, dass wir den Eindruck hatten, dass dieses Szenario, das sich da im Inneren der Rostlaube findet, von sich selbst als verborgen geborgenes Geheimnis weiß, sprich die Erkenntnis weiß von sich als Erkenntnis – denn das ist, was sie ausmacht: das Wissen von sich als Erkenntnis. Und dies ist das wahre Geheimnis, das alle Epistemikonie nie je wird ergreifen können. Dies Geheimnis braucht weder Geborgen- noch Verborgenheit, weil es in der Erkenntnis selbst verborgen liegt. Wir können es nur ahnen. Das Unheimliche zeugt von solch einer Ahnung, der Nacken ihr Sinnesorgan. Es weiß von der nicht mehr vorhanden Geborgenheit, die nur noch Verborgenheit ist – also Geheimnis. Das Szenario, in das wir auf der angelagerten Sandbank der Heiligen Stätte des Fluxus blind eindrangen, weiß sich also nicht nur selbst als Geheimnis, nicht nur die Unbegreiflichkeit unseres Erkennens, sondern auch von der Selbsterkenntnis der Erkenntnis, die einzig der Erkenntnis selbst begreiflich ist, weil von dieser schließlich bereits immer schon begriffen.
Wir geben für heute auf. Alles hatten wir gewollt, nur eines nicht: Bei Heidegger enden.
Heidegger nicht das letzte Wort überlassen:
Man ist immer ein Eindringling. Das hatten wir bereits schmerzhaft für alle Beteiligten im frühster zu Verifiktion erkennen müssen. Auch diesmal waren wir eingedrungen. Auch diesmal, weil der Ort – die Rostlaube – in seiner brüchigen Öffnung zum Eindringen einlädt. Unser Eindringen hat etwas entborgen, das sich verbergen wollte: ein Geheimnis. Das Geheimnis – sehen wir von der Epistemologie ab, ist die Wunde, die sich uns da auftat in der Verletzlichkeit der Boote, die Schutz suchten, den ihnen das Wellblech auch bot. Und zwar nicht obwohl es sich zersetzen ließ vom Menai Strait, sondern gerade weil, es sich auffressen ließ und seine Zersetzung ausstellte. Das heißt, die potentielle Katastrophe der Boote, die da im Innern verborgen war, die war an der Blechhütte in dessen Zersetzung schon vorweggenommen und ausgestellt. Die Verletzlichkeit, von der das Innere zeugt, wird also an einer anderen Stelle als Wunde bereits ausgetragen. Diese Versetzung (= Metapher) ist Schiebung, Betrug, Falschheit. Stellvertreterwunde. Erlösungsglauben. Christentum.
Binnenvorwort Bei-Pass
Nun kennen wir uns schon so lange, und gehen uns doch immer wieder aus dem Weg. Wir, ja ich spreche von Ihnen und von mir, liebe Lesenden. Doch damit hat es nun ein Ende, wir operieren am offenen Herzen der Biographie, und das aus aktuellem Anlass. Aber Achtung: Die schmerzhafte Wahrheit liegt ja nicht in der Krankengeschichte der Textfunktion „Protagonist“, sondern in der Sinnstiftung, die hier sichtbar wird. Damit überführt der Text nicht nur sich selbst, sondern auch seine Kameraden, die ihn umzingeln.
Aber sehen Sie selbst.
Bei-Pass
Dieter Pogoda fühlt endlich mit dem Bein
Seit dem 14. Juli 2020 fühlt Dieter Pogoda endlich mit dem Knie. Das war ein langer Weg. Geboren 1944 in Kattun (Landkreis Deutsch-Krone), befand er sich kaum einjährig in der Vertreibung, in den Armen der Mutter oder Großmutter, an der Seite des älteren Bruders. Sehen lernten seine Augen also an marschierenden Beinen, trampelnden, schlurfenden, stolpernden, stapfenden, schreitenden und wohl auch sich beugenden, faltenden, aufgebenden. Wenn auch selbst noch nicht marschierend, lernten seine Beine durch das Sehen die Anstrengung des Laufens. Denn was das Auge sieht, fühlt das Bein: Spiegelneuronen. Die marschierenden Beine der anderen wussten aber auch, dass die Schmerzen, die sie fühlten, nicht nur der körperlichen Anstrengung zu verdanken waren, sondern auch dem, was sie zurückgelassen hatten. Dieses peinigende Wissen der Beine kostete Dieter Pogoda das Sehen. Der Denkschmerz des Beines im Anblick machte nämlich sein linkes Auge – das dem Herzen näher steht als sein rechter Kamerad – des sehenden Lebens müde und aufklärungskrank. Es wollte nicht mehr sehen, was es zu lernen galt für Dieter Pogoda. Und so verweigerte es ihm mit einem Jahr den Dienst – oder vielleicht fiel es auch an Erschöpfung im Dienst. Merken wir uns also: Nicht nur das Knie, nicht nur das Bein, denkt und fühlt, sondern auch das Auge. Das linke dachte und fühlte wohl, dass dem nicht einmal Einjährigen die herznahe Teilblendung einer Überdosis Lebenswissen vorzuziehen sei. Es erblindete und als an seiner frühsten Kindheit bereits unschuldig verschuldeter und vor zu viel Wissen behüteter Zyklop hatte Dieter Pogoda sein Lebenspfad zu beschreiten. Wäre Dieter Pogoda Königskind und nicht Bastard seiner Zeit, fänden wir in ihm griechische Tragödien. Immerhin, seine Beine – so erkennen wir nun rückblickend – bewahrten das spiegelneuronale Wissen des säumigen Auges als Ahnung und Sehnsucht auf. Ein kindliches Wissen von den Anstrengungen der Geschichte. Aus der war man geflohen, in die wurde man vertrieben. Das Internierungslager Berlin Lichterfelde, in welches ihn die Beine der Mutter und Großmutter trugen, hatte seine Geister nur in seiner Bezeichnung austreiben können. Doch der gespenstische Terror des KZ-Außenlagers für Sachsenhausen, der dort bis Ende April geherrscht hatte, war weder mit den Nationalsozialisten noch der Roten Armee und auch nicht den amerikanischen Besatzer gewichen. Gespenster sehen auch geblendete Augen.
Zu westdeutscher Familie weiterverschickt, lernte man das halbblinde Laufen schnell, ohnehin wurden die Beine zur Kunst: Ursache und Ziel zugleich. Als rannten die Beine sich selbst stets hinter, als wüssten sie, es gäbe sie selbst einzuholen, als ahnten sie dieses Mehr der Beine, jenes Wissen nämlich, das Dieter Pogoda bereits ein Auge gekostet hatte. Das Laufen Dieter Pogodas entwarf sich daher vor allem als Zulaufen. Nicht als Weglaufen. Auf ein Ziel. In jungen Jahren, längst hatte man den älteren Bruder und die leibliche Mutter an Großbritannien verloren, wurde man Leichtathlet. Man rannte fiel, Erfolge verbuchte man aber nur in Medaillen, nicht im sich selber Einholen. Aus der Familiengeschichte vertrieben.
Im späten Alter aber hörte das linke Bein auf, das Laufen zu wollen. Als habe es nach weit mehr als einem halben Jahrhundert erkannt, was das linke Auge so früh hatte sehen müssen, als habe sich das linke Bein spät das augenscheinliche Wissen seines Laufens erlaufen. Man hatte sich selbst einholen wollen, indem man in seine Geschichte vorausläuft, doch das linke Bein muss genau dies erkannt haben. Selbsterkenntnis der Angst im Bein führt zu Stillstand. Verweigerung des organischen Dienstes, erneut auf der linken Seite, erneut dem Herzen so nahe. Im Übrigen ein Stillstand schrittweise. Vom Fuß ausgehend, dem Organ für Bodenkontakt, Bodenhaftung. Schließlich auch der Oberschenkel. Dieter Pogoda von nun an ein einbeiniger Zyklop, der im rechten Bein die Anstrengung des Laufens ein zweites Mal zu lernen hatte. Leibhaftig, ungespiegelt. Aber vermutlich auf Grund von Neuronen. Ein Bein, das vom Verlust immer schon gewusst, aber ihn zu denken verlernt hatte, musste nun lernen, den verlorenen Verlust des linken mitzutragen. Das Wissen der Beine, ist das Wissen vom Verlust. Das hatte das linke Auge zu früh gesehen, die erblindende Prophezeiung. Das hatte sich das linke Bein schrittweise erlaufen und das hatte nun das rechte Bein langsam zu lernen.
Auge, Bein, Bruder, Mutter – lauter Urverletzungen, die doch Echo eines anderen Verlustes waren. Am 13. Juli 2020 dann das Herz. Rettung kam von ausgerechnet dem rechten Bein, das – vielleicht ahnungsvoll – ein Leben lang auf das Herz zugelaufen war, um dort endlich den Verlust des Wissens von der Anstrengung des Seins einzuholen. Dessen Adern wurden nun zum Herzen versetzt. Endlich fanden Denken und Fühlen einander ihren Ort. Doch das Bein muss das Denken im Herzen auch erst mal lernen. Und das Herz das Fühlen mit dem Bein.
Beipass nennt man das.
Pässe spielt man zumeist mit dem Schwungbein, gestützt vom Standbein. Man fragt sich, war das rechte Bein Schwung- oder Standbein? Man fragt sich, welche Pässe spielt das Herz und wem spielt es sie zu? Das Herz nicht nur von der Blockade befreit, sondern auch offenliegend unter einem aufgerissenen Brustkorb kann den Blick wagen, dem sich das linke Auge entzogen hatte. Vielleicht findet sich in dem Ausblick Versöhnung. Versöhnung, ist ein Veren des Sohnes. Versöhnung, versöhnt, versöhnlich kommen vom vervorsilbten Sohn, wir sind alle Söhne unserer Geschichte. Wie Hamlet, der Sohn ist der Geschichte, die ihn verfolgt und von der er sich verfolgen lässt. Nur als so verfolgte Söhne werden wir zur Person („per son“ = Per-Sohn), in der sich das „ver“ verhärtet mittels Piphtongierung. Dieter Pogoda ist also nun endlich versöhnt. Bein und erblindetes Wissen von der Anstrengung des Seins haben nun endlich Zutritt zum Herzen, das den Blick, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick (gemessen an der Lebensspanne) hinauswagen wird.
Versöhnlich ist auch die Geschichte vom verlorenen Sohn, die für Dieter Pogoda eine Geschichte von verlorenem Bruder und verlorener Mutter war. Denn noch bevor das Herz das rechte Bein zum Denken in sein Haus einlud, fand sich nach 60 Jahren der Bruder wieder. Auch er übrigens hatte, wenn auch schon bedeutend früher, gelernt, sich mit dem Herz die Pässe des Verlustes zuzuspielen. Die beiden Brüder hatten sich 60 Jahre nicht gesehen, man erkannte sich aber sofort wieder, denn für solche Geschichten braucht es das linke Auge nicht.
Das alles hier ist wahr, es kann aber auch alles nicht wahr sein. Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Es soll mir aber erst mal einer beweisen, das die Geschichte, die ich hier schreibe, nicht wahr sei. Sie kann natürlich morgen auch schon wieder nicht wahr sein, denn wer weiß, was wirklich ist?
Binnenvorwort - Von Porthmadog nach Pentraeth
Wären diese Binnenvorworte ein literaturkritisches Kommentar einer Autorin, die die verifizierenden Verwehungen von Beginn an verfolgt (verfolgt ist nicht folgen!), so spräche ich, das Binnenvorwort, voller Begeisterung, explodierte vor Freude angesichts dieses brillierenden Textes. Der Autorin des Textes und der Herrin meiner Selbst, das ich doch nur dem eigentlichen Text diene, will ich aber doch einmal zurufen, dass alles Schreiben ja schön und gut sein mag, aber die Aktion bringt doch die action und damit das Lernen. Sprich: Mehr Zeit bitte ohne Text. Das mag Sie liebe Leserun (geben wir’s zu, sind fühlen sich doch auch schon ein bisschen walisiert, oder), stören, hoffentlich verstören, wollen Sie doch mehr Text, nicht wahr?
Mehr Text als vorige bietet das Folgende, doch auch mehr dichte. Dichtung kommt also aus dem erlebten Leben, Leben ist Dichtung, wenn zum Fluxus gedrängt. Das rücken sich auch Texte richtig, links oder rechtsbündig, zentriert oder eingeschoben.
Doch genug verschweigt, dienen will ich dem Folgenden und Ihnen, den Verfolgenden des Folgenden und Auskunft geben: Sie werden Zeugen einer Autopanne mit Totalschaden, die eine Reise nach Porthmadog erfordert. Die Reisenden sind uns die beiden Abenteurer, die wir schon so lange begleiteten, wir sehen sie sich einander entgleiten. Das stellt vor Abgründe. Die wiederum stellen der Vergangenheit nach. Doch nicht weit, denn kurzsichtig ist der Rückblick, der von Aktionen der NWK berichtet: Herakles 5.2 - eine moneymentale Befreiung. Das führt wieder zu manifestigen Gestikularien, was gewollt wie eine Textkrankheit klingt. Ein Traktat ist nichts anderes und nichts anderes ist es als ein Traktat.
Von Porthmadog nach Pentraeth
Der Bruch, der vielleicht eine Sollbruchstelle war, ich kann es noch sagen, denn bis heute ist mir nicht klar was passiert ist, denn man sprach in dreifach fremder Zunge, nicht nur auf Walisisch und Englisch, sondern zudem in einer Anatomie, die nicht meine und nicht deine war, sondern die des Zugtieres, das uns nicht beim Misten geholfen hat, sondern bei der Flucht. Also eigentlich kein Zugtier, sondern ein Fluchttier, Zugtier aber wohl, weil offenbar unser Fluchttier Vorderradantrieb übt. Der aber versagte, weil eines der Räder sich derart verstellte, dass es nicht mehr anzutreiben war. Stattdessen trieb es uns in die Sollbruchstelle. Bei Rückradantrieb hätten sich Probleme mit der Weiterfahrt nicht ergeben. Wir denken also nach: Das nächste Mal eine Schubkarre statt ein Zugtier, oder doch weiterhin Zugtiere, damit wir an Sollbruchstellen geraten? Denn an deren Rändern können sich Schlingen Siege ergeben und auf deren Suche befinden wir uns ja stetig und ständig, manch einmal auch sitzend, im Zugtier.
Nun gut, ob Zug- oder Fluchttier, Schubkarre oder Leiter, dem unsrigen wird kein Gnadenbrot zuteil, der Schaden ist total.
„They shoot horses don’t they“
Diese anekdotische Filmreferenz bindet das Schicksal des Autos, von dem natürlich oben die Rede ist, fest an das Narrativ der Erforschung heroischer Arbeit, der man unter dem vielsagenden Titel Herakles 5.2 an jenem Nachmittage nachgegraben hatte und ja bis heute weiterhin nachgeht. Heroisch ist weder die Arbeit des Tieres, des Autos noch des Menschen, auch der Soldat ist kein Held. Da kann sich die britische Regierung noch so sehr anstrengen und von frontline heroes sprechen, wir bleiben doch key workers und damit Ernst Jünger coronaaktuell. Wenn der VC der Universität rhetorisch Krieg gegen die Banalität von Covid-19 führt, indem er die exceptionell Leistung aller neben allerlei anderes Wortgeschütz aufstellt, dürfte das nicht nur einen Geisteswissenschaftler und Philologen als falsch einsichtig sein. So sehr wir uns hier auch immer wieder in Heroisches hineinreden, so wissen wir doch das das Eingeredete nicht so lange hält wie Eingemachtes, aber genauso unappetitlich ausschaut.
Unappetitlich schaute auch der Misthaufen aus, der an jenem Tage, an dem unseren Zugpferd das linke Vorderbein brach, derart zerpflückt, ergruben und beackert wurde, dass die Regenwürmer aufgeschreckt sich ins Abendlicht reckten, dass es einen den Magen umdrehte und das Denken aufhörte. Mir selbst, so muss ich hier doch eingestehen, hatte es das Denken schon Tage vorher verschlagen, einfach weil es ein Einschlag an Lebensresten – Mist, Scheiße – gegeben hat, der mich zwar nicht funktionslos aber doch erfahrungslos machte. Und so stolperte ich durch dieses schlechte Arrangement, das sich da vor mir aufgetürmt hatte und das ich zu meinem eigenen künstlerischen Geschöpf gemünzt hatte: Mit 100 1£-Münzen und dem heiligen 5 Pfundschein der ersten moneymentalen Aktion hatte ich mir den Misthaufen angeeignet. Hatte sich die erste moneymentale Aktion noch der Befreiung der neoliberalen Freiheit verschrieben gehabt, dachte sich das jetzige Arrangement als Fortsetzung und wollte gleich was anderes sein. Ergebnis: jämmerlich. Nichts ging auf, schon gar nicht Gedanken, schlimmer noch: alle Beteiligten hatten einen herrlichen Spaß, doch ich konnte nicht mitspielen, weil ich das Arrangement ausspielen und mir Erkenntnisse im Film einspielen wollte. Ich lief also mit der Handykamera und gedankenlos herum, fand damit weder das Gold des Geldes, des Mistes noch der körperlichen Arbeit, zu der beide Golde aufriefen. Ich stand außerhalb des Bildes, das mir daher Bild blieb und nicht Erfahrung wurde. Ich glaubte, das Bild machen zu können und es machten doch die anderen.
Stalingrad der Kunst ist auch nur Mist
Mein Stalingrad der Kunst, um ein altes Denkbild von mir aufzugreifen.
Denn neues Denken fällt mir weiterhin schwer, daher auch dieser Text, der seine Schreibsituation verkörpert: nächtlich Ertipptes, Zwischenschlaf. Statt Schafe zähle ich Zugpferde. Von dem einen sprach ich anfangs, weil ich vorhatte von dem nächsten so zu sprechen, dass das Dazwischen als das eigentliche Zugpferd der Gedanken sich zeigte. Zugpferde sind also nicht die Zugpferde (ich spreche von Autos), sondern die Sollbruchstellen sind die Zugpferde. Wobei ich – da ich das in später nächtlicher Stunde ertippe – mich ertappe bei Gedanken, die sich natürlich nur als Gedanke tarnen und eigentlich Zweifel sind, gegenüber dem erhaben ich mich in den letzten Wochen mehrfach einbefunden meinte glauben zu können.
Fangen wir bei der Sollbruchstelle an: Der Schwächetod des einen Zugpferdes erforderte den Erwerb des nächsten Zugpferdes, was wiederum erforderte, dass Mann und man gemeinsam auf Reise ging, woraus weitere Reise erwuchs, worin Gespräche über zukünftige Reise sich einstellten. Der Zweifel denkt natürlich diese Reisen sind eigentlichen Sich-Entfernen voneinander, Reise also mit Fluchttier und nicht Zugtier. Die Hoffnung aber will dem Zweifel Lügen strafen, daher wohl die schlaflose Nacht und unerotischen Gedanken. Die reihen sich ein in die sieben Fliegen (kommt von Flucht), die um den goldenen Misthaufen kreisen, kämpfend um den Rank, der die Scheiße am wenigsten zu riechen hat. Vorheriges Jahr nannte man die erfolgreiche Fliege mit feiner Nase Lohndrücker, einem walisischen Sprichwort folgend. Das war zu Herakles 5.1 Zeiten. Der Lohndrücker drückt mir aber weiter aufs Gemüt, wie auch der Lohndruck, der will, dass ich meinen Lohn im Voraus aus anderen Quellen erwerbe und meinem eigentlichen Lohngeber gebe, ich also zum Lohngeber meines Lohngebers werde, damit er mir Lohngeber wird. Der Lohndrücker war ein solcher Erfüllungsweg, den ich schon längst heroisch verlassen habe, wenn auch noch in Reichweite sehe, denn Herakles ist dem Lohndrücker verwandt und flog sicher nicht höher wie der Lohndrücker über den Misthaufen. Herakles, wissen wir, war so nah an der Scheiße, dass es ihm Atem und somit auch heroische Arbeitsleistung verschlug, wenn er auch die Arbeit, die ihm aufgetragen war, dann doch erledigte, wenn es auch tausende von Jahren dauerte. Jahrtausende, die wir als Menschheitsgeschichte verbucht haben. Nur wenn Chronos seine Kinder frisst und die tausenden von Jahren damit auf ein paar Tage schrumpfen, erscheint Herakles als Held, der Prometheus vom Felsen und Augeas vom Mist befreit. Wir aber, gebunden in der unendlichen Dehnung von Zeit, bei Covid-19 ohnehin verstärkt in ihrer Langsamkeit, müssten schon bemüht sein gegen Mauern und Wände anzurennen, um jene Beschleunigung zu erreichen, die uns zu heroischer Munition macht. Dann aber bräuchten wir auch den Zuschauer, der uns zum Geschoss der Geschichte, also Revolution, also Heros macht.
Das alles freilich wortspielerische Referenzen an Heiner Müller, billig abgeklatscht, sprich genau das Gegenteil von revolutionärer Beschleunigung, die Müller bildreich dem Theater zuschrieb, solange es auf ein Publikum stoßt. Zugleich lese ich in dem Zitatenquark natürlich meine Situation, das heißt, mir sagen die Worte mehr als jedem anderen Leser, der sich fragt, was das soll. Ich sage mal so: Die se Lohndrücker-Passage ist nicht nur die höchste Fliege über dem Misthaufen, sondern ist eigentlich dem mit Mehrwert gefüllten Misthaufen gleich: Von außen nichts als warme Scheiße, tief drinnen aber arbeitende Würmer und in Geldmünzen geprägter Mehrwert. Beides freilich kann man nur ergreifen, wenn man selbst gräbt. Und selbst dann kann ich sagen: nicht alles Gold wird man finden, wir fanden ja auch nur 36 der 100 Münzen. Auch ein Metalldetektor beförderte nicht mehr zu Tage.
Und Mehrwert verlangt Arbeit am Material – daher ja auch die Probleme mit der Marxschen Theorie, die ja eine Mehrwerttheorie ist, heute aber kaum noch Mehrwert produziert werden kann, weil Arbeit und Material (und damit auch Zeit) immer knapper werden. Der obige Absatz also lädt ein zur Arbeit am Material und hat darin seinen Mehrwert. Falsch zu verstehen ist der Absatz also nicht, solange Sie mit ihm arbeiten.
Zu reden und zu schreiben wäre natürlich noch mehr über den Misthaufen, der vielleicht nicht so sehr etwas Spezifisches ist für Nordwales, Gwynedd oder Anglesey, denen diese Verifikationen der DWF ja gewidmet sind, aber in ihrer Generalität auch an diesen Orten ins Schwarze treffen. Sie sind also Metaphern gleich, die eigentlich allgemein sind, und daher ortspezifisch sein können. Das Ortspezifische trägt nicht nur die Metapher aus dem Allgemeinen an einen anderen Ort, sondern gibt auch dem spezifischen Ort ein Anderes, das über ihn hinausweist. Sie tragen einander also zu bzw. weg ins Abseitige.
Der Misthaufen, wie alle unsere genius loci etwas Abseitiges und Metaphorisches: Zwar mögen die meisten Farmen an Hauptstraßen liegen, doch ihr Grundstück verrennt sich weit- und somit randläufig. Der Bauernhof, also der Hof des Bauern, das Eingemauerte, auf dem sich der Misthaufen befindet im Allgemeinen, der liegt dann doch eher abseitig, einem Abseits, das durch den Hof sein eigenes Zentrum aufweist.
Die Freunde waren eingeladen, den Misthaufen nach dem Geld zu durchsuchen. Sie durften behalten, was sie fanden. Weil man großzügig war, stellte man Haushalthandschuhe zur Verfügung. Manche kamen mit Hacken, Mistgabeln, Schaufeln, manche mit Gummistiefeln, manche ohne. Man grub, wühlte, machte Späße, fand Würmer, machte Späße, versuchte sich in Scheißgedichten. Alles durchaus schön, alles durchaus Dieter Roth oder Diter Rot, sicher auch Heiner Müller, dessen Prometheus stellenweise erklang. Irgendwann dann Stille und Arbeit, auch Schuften, dann Pause, Abzug. Moneymentale Befreiung auch diesmal? Gefunden hatte man von den Geldmünzen nur wenige, doch viel durchgearbeitet vom Mist. Ein Schlachtfeld, ein Denkhaufen? Ich selbst kann es nicht sagen, denn wir anfangs bereits angedeutet, ich war nicht vor Ort, nur hinter der Kamera, die mich längst an die Kandare genommen hat und mir alles nahm, was ich glaubte festhalten zu müssen. Erfahrung blieb für mich aus, da ich freie Sicht hatte. Zudem nicht als Knecht, sondern als Herr war ich aufgetreten, und dachte, ich dürfte nicht beides sein, wie dumm. Herr war ich, der das Versprechen auf Gold oder doch Entlohnung der Arbeit in der Arbeit (also Kunst) versprochen hatte. Letzteres gedacht als Performanz pur: was hier am Misthaufen praktiziert wurde, war Performanz, sinnhaftes, weil körperliches Vorführen von Arbeit, die in keinem Produkt endet, außerdem umlagern des Mistes. Aber entlohnte Arbeit war es, wenn auch nur mit Geld und nicht mit Sinn. Sinn gab es nur dadurch, dass es kein echter Misthaufen war, sondern Kunst, weil als Happening dank Programmblatt, kreisender Dichtung und Kamera eingerahmt. Die Kunst, auch wenn sie den Ausdruck vom Zwang des Sinn befreit, wie der moneymentale Fluxus die neoliberale Freiheit von der Freiheit, birgt immer Sinn, ist immer sinnvoll, weil sie eine Sinnlosigkeit ist, die voller Sinn ist, weil sie eine Sinnlosigkeit ist, die nur deshalb sinnlos ist, weil sie übervoll von Sinn ist, so dass kein Sinn sich als Sinn hervorheben könnte (im Sinne von hegemonialer Bedeutung und Zweck). Daher auch die Scherze, daher auch die körperliche Anstrengung der anderen keine Anstrengung (von Sinn), sondern Befreiung von Sinn. Die Kunstarbeit, die hier das Kollektiv leistete, war nicht sinnentleert, aber doch befreit von Sinn und Sinnbefreiung. Nur befreiter Sinn kann spielen und mit sich spielen. Der Misthaufen also ein Spielplatz.
Den Mund zu voll nehmen
So lerne ich also vor allem wieder etwas über die Befreiung der Kunst in mit und durch Selbstzweifel, nicht unbedingt von Selbstzweifel. Dabei will ich dazu anregen, Selbstzweifel in ihrer Benennung als Selbstzweifel zu bezweifeln bzw. ihr Status ihnen mit gewissem Selbstvertrauen streitig zu machen, denn der Zweifel könnte einfach nur Weltsicht und Realismus sein. Jetzt reden wir nicht mehr vom Mist, sondern von der Sollbruchstelle Reise, die stattfand, weil das Zugtier sich totalgeschädigt hatte, und auf der man sich voneinander entfernte, nachdem man sich mal nah war. Man könnte ja drüber reden, aber wie, wenn der Mund ständig voll ist.
Geschriebenes Traktrat Pentraeth
Wir denken das weiter, aber nicht in Pentraeth, sondern in Porthmadog, weil erst hier wir den Mund so voll nehmen wollten, dass wir unser eigenes Wort nicht mehr verstanden, das so auch nicht mehr zu uns sprechen konnte. Eine Form von Blendung. Der Misthaufen aber, der sich hier davorschob, vor Porthmadog, über das ich ja eigentlich schreiben wollte, der steht in Pentraeth. Er hat sich derart ins Schreiben gedrängt, dass nur ein Schluss zu ziehen bleibt:
Der Misthaufen ist das Zentrum von Pentraeth. Pentraeth ist ein kleines Dorf auf der nordwalisischen Insel Anglesey. Der Name setzt sich zusammen aus den walisischen Wörtern Pen und Traeth. Pen steht für vieles, unter anderem für Kopf, Spitze, Ende, Gehirn und vielem mehr, eben auch dem Kopf einer Münze (Kopf oder Zahl?), in anderer Wortbedeutung auch Schreibstift. Traeth steht für Stand, Küste, Ufer, also Wörter die das Ende eines Landstückes beschreiben, Randgebiete gewissermaßen, auch wenn sie oft Menschenmassen anziehen und damit nicht wirklich Marginalien sind. Traeth kann aber auch eine Erklärung, eine Verlautbarung, ein Traktat sein, in mündlicher wie in schriftlicher Form und ist damit einer seiner weiteren Bedeutungen verwandt, nämlich der Ordnung oder der Norm.
Der Misthaufen würde sich also sowohl auf der ersten Silbe wie auch der letzten des Dörfchens betonen lassen, denn er will ja nicht nur erdacht und erschrieben werden, sondern will ja auch als Sollbruchstelle eine Grenzerfahrung erlauben. Pentraeth stand am Anfang eines Traktates und steht auch noch an seinem Ende.
Binnenvorwort - Wales, seine Drachen
Weniger Abenteuergeschichte als Ideologiekritik. Lassen Sie sich doch mal darauf ein. Das Binnenvorwort plappert diesmal nicht, sondern verweist auf die Idee und der Versuch, sich dem Drachen, der das Logo der Deutsch-Walisichen Freundschaft brannte, zu entledigen, indem der aus der DWF geborenen NWK-AO eine UNKW wie heißer Auswurf abgespalten wird. Was die SPD kann, können wir schon schöner und mit (m)erzbaukünstler (m)eese. Wales, seine Drachen also Ideologiekritik als Ideologieversuch. Heute, rückblickend, können wir sagen: Ideologiekritik gelungen, Ideologieversuch gescheitert. UNWK war. NWK AO war, ist und wird sein. Die Verifikationen sind einer ihrer Orte, daher sei es hier erlaubt, so ausführlich Kunstgeschichte zu schreiben.
Wales, seine Drachen
Vorfah’n
Der Drache ist für Jonathan Meese ein unideologisches Wesen und damit frei. Die Waliser aber versuchen, den Drachen immer wieder einzufangen. Als sei er das Haustier der Nation dekoriert ein roter Drache die weiß-grüne Fläche der Walisischen Nationalfahne, die keinen Staat beflaggt, nur ein inneres Feld gewissermaßen. Ein weites Feld, das die Waliser auch mit Hiraeth bezeichnen mögen und wo sich erneut fiktionale Geschichte der Deutsch-Walisischen Freundschaft findet. Die erste belesene Referenz ist nicht nur deshalb angebracht, weil sie spielerisch zutrifft, denn wo weiden mehr Schafe auf Grasflächen als in Wales, wo sich mancher nicht wenig als eine Nation des Pebble Ash-Betons um seine Staatswerdung verlustig fühlt. Der Gedanke daran auch ein Gefühl des Hiraeth, das melancholische zurückblicken auf eine Zukunft, die man sich einst erhofft hatte.
Richtig, solche drachenbeflaggten inneren Territorien falten sich zu Mythologien, aus denen sich manchmal Staaten, manchmal Geschäfte machen lassen. Im deutschen Fall beides, im Falle Wales nur eines, wobei vor allem andere daran verdienen. Letztendlich kann man aber nur auf Ausverkauf durch die Wegwerfgesellschaft hoffen. Dann hätten diese beiden Alpträume sich auch mal verdient gemacht. Minus mal Minus ergibt Plus.
Rot mal weiß mal grün ergibt manchmal kackbraun und das ist meistens Scheiße.
So sollte man dem walisischen Drachen vielleicht lieber mit Abstand begegnen, sich ihm so fern halten, wie seine mythenreiche Geschichte zurückreicht. Diese reichen wir hier natürlich bei, denn feuerrote Aufklärung haben auch wir uns auf die Flügel geschrieben. Die flattern ja auch im Wind, deshalb fiel auf sie unsere Wortwahl, damit wir den billigen Kalauer nicht bedienen mussten, der uns ja zugleich auch dem Vorwurf ausgesetzt hätte, den wir hier den Anderen vorhalten.
Der Drache wird gelandet worden sein
Die englischen Könige des Geschlechtes Tudor, immer hin von 1485 bis 1603 auf dem Throne, gelten als walisische Familie. Ihr Begründer, Heinrich VII, besiegte den bösen, fiesen und attraktiven Lars Eidinger in der Schlacht von Bosworth. Das übrigens die letzte Schlacht, die um den englischen Thron ausgetragen werden sollte. Der gute Henry trug eine Fahne ins siegreiche Feld, die ein roter Drachen zierte. Dank des Triumphes erhielt das Banner mit dem roten Drachen seine Weihe in St. Pauls Cathedrale. Fahnenweihe schon damals ein beliebter Ritualsport. Quadratisch war das Banner zwar nicht, aber eine gute Wahl, weil der schwertsichere Henry mit dem Drachen zugleich praktisch eher den walisischen Kämpfer heraufbeschwor als mythologische Wesen, denn das walisische Wort für Drache (draig) meint im Altwalisischen auch Kämpfer. 1953, Henry, die Tudors, und allerhand andere waren einzig noch Schulstoff, erhielt der Stoffdrachen Heinrich VII. Wappenbesserung. Von nun an war der Drache umworben von einem gelb-weißen Kranz, unter der britischen Krone versteht sich. Der Schriftzug Y ddraig goch ddyry cychwyn kündete von der Avantgarde des walisischen Drachens oder Kämpfers, je nachdem. Es ist mir ein Anliegen darauf hinzuweisen, dass der Drache oder eben Kämpfer hier als ein femininum behandelt wird, denn einzig feminine Substantive werden im Walisischen weich mutiert, wenn ihnen der bestimmte Artikel („y“) vorangestellt wird. Dem maskulinen Substantiv passiert solche eine Wandlung nicht. Viel Politisches brachte diese Avantgarde der walisischen Nation im Übrigen nicht, denn anders als Irland oder Schottland war Wales kein gleichwertiges Königreich britischer Krone, sondern etwas Annektiertes. Politische Irrelevanz aber schütz vor politisch Irrem selten, so dass der oder die Drach*in, der oder die Kämpfer*in schnell in an der Wirklichkeit sich nie zu erprobenden Nationalgeschichten erfreuen durfte. Die Imaginationen sind so zahlreich und unzählbar wie die EU subventionierten Schafe auf walisischen Weiden. Ein weites Feld.
Erlaubt die Gegenwart keine agency, dann wird Vergangenheitstheater gespielt. Und Drachen finden sich, wir denken nur an den Lindwurm Fafner, der wie der Ring des Nibelungen manch deutsche Seele bis heute umgreift, zu schwach für einen Würggriff, als sei er ein Parasit, der an dem Erhalt des Wirts interessiert sei. Hatte Fafner einen Bruder, so hatte der rote walisische Drache einen Feind, zumindest laut des Mabinogion, einer Sammlung walisischer Sagen. Hier wird fabuliert über den Kampf zweier Drachen, von denen der rote offenbar in Snowdonia heimisch, der weiße jedoch Snowdonia fremd war. Wenn Drachen kämpfen geht es heiß her und die angerichteten Wunden brennen Schmerzensschreie aus den verglühten Hälsen der Schuppentiere. Die Schreie erzwingen Empathie und so kam es zu menschlichem Unglück und Chaos: Kriegsschäden eben. Als sei der Drache ein Drache und eben kein Kämpfer. Man wusste sich nicht anders zu helfen als mit einem Hinterhalt: Soldaten wie Drachen löschen ihre Kehlen entweder mit Fenchelhonig oder mit Honigwein. Immerhin, die Waffenruhe hielt mehrere Jahrhunderte. Der Sieger schreibt die Geschichte und so findet sich heute auf der walisischen Flagge eben nicht ein weißer Drache gebannt.
Grubenlandung
Seit 2008 ist der rote Drache allerdings offenbar wieder in eine Grube gelockt worden, denn das walisische Wappen, dass 2008 dasjenige Heinrichs VII ablöste, zeigt einzig den englischen Löwen, wenn auch gleich viermal, als reichten sie so an die Stärke und Feuerkraft der Drachen heran. Wegen Mangels an Drachen wird das 2008er Wappen wohl in Wales auch nie ausgestellt. Daher auch mag kaum jemand wiedererkennen das 2008er Motto, das den vier Löwen untergestellt worden ist: „Treu bin ich meinem Land“. Ist treu dem seinen Lande der walisische Drache etwa nicht? Keine treue Seele? Oder vielleicht nur treu der walisischen Nation, nicht aber dem britischen Staat? 1953 fauchte der Wappendrache ja noch eine ganz andere Melodie: „Y ddraig goch ddyry cychwyn“: Der rote Drache animiert zur Tat, schreitet voran. Der Avantgarde gleich. Die ist bekanntermaßen nicht treu, außer dem eigenen Blick, der in die Zukunft gerichtet ist.
Grubenflug
1958 hatte Wales weder als Nation noch als Staat oder mit seiner Sprache irgendeinen legalen Status. Wales war ein annektierter Teil Englands. Daher die Leichtigkeit avantgardistischer Gestik des roten Drachen. 1998 erhielt Wales erstmals legalen Status als Nation, mit eigenem Parlament, das seit 2020 im Englischen wie im Walisischen (das inzwischen als offizielle Sprache anerkannt ist) Senedd heißt. Vielleicht braucht es deshalb den Drachen nicht mehr, der nun wieder all jenen in die Hände fliegt, die glauben sich mit nationaler Ideologie nicht verbrennen zu können. Schwärmer haben schwache Nerven, Dinosauriern gleich braucht es Jahre, bis sie merken, dass sie sich in den eigenen Schwanz gebissen haben. Ideologie kann einem Drachenliebhaber nicht sauer aufstoßen, denn das Brennen glaubt er der Identifikation mit dem begehrten Fabelwesen zu verdanken.
Ideologieschwangere Tiere
Wir, von der NWK AO sind für die Befreiung des Ausdrucks vom Zwang des Sinns, sind gegen bedeutungsschwangere Symbolik und gegen jede Message. Wir bedienen Überdrussüberfluss und Überflussüberdruss, kurz Fluxus. Wir, von der NWK AO (Neue Walisische Kunst Aufbauorganisation) wollen nicht den walisischen Nationalisten, sondern Jonathan Meese folgen: Der Drache sei ein unideologisches Wesen. Und vielleicht ist daher: „Y ddraig goch ddyry cychwyn“ besser zu verstehen als ein Voranschreiten in das ideologiefreie Territorium der Kunst, wo es keine Message gibt nur den tautologischen Glutkern der Inspiration. Wir werden daher bald Irrwege suchen, den Drachen
endgültig zu befreien aus der Ideologie. Ein Weg ist die unmissverständlich missverständliche Auslegung des eingelegten Mythos. Da werden alle laut aufschreien wie die kämpfenden Drachen. Wer will schon einen Drachen, der sich der Kunst verschreibt und nicht der Politik? Wer will schon den Kunststaat? Einen Staat, der immer dann entsteht, wenn Kunst sich ereignet?
Wir sind das Wer.
Wir fragen uns:
Wird der Drache einzig als Fahne zur Ideologie, aber auf der gespannten Leinwand frei?
Und ist einmal die Walisische Flagge verleinwanded, kann die Kunst ihre Arbeit tun. Soviele Fahnen gibt es noch zu befreien aus ihrem falschen Dienst an der falschen Waffe für das falsche Land. Neue Fahnen der Welt müssen her. Auch um die Fahnenwelt ein wenig bunter zu machen und es sich vielleicht endlich wieder lohnen würde, die Eröffnungsfeiern von globalen Sportgroßveranstaltungen zu schauen. Nicht immer nur die gleichen zwei oder drei Farben, zwei oder drei Geometrien. Sondern Ausbruch der Kunst auf der Fahne als Fahne. Fahnenkrankheit. Die Fahne als Symptom übermäßigen Kunstkonsums. Und es darf kein Halten und Verhalten geben. Jeden Tag eine neue Fahne.
Wir haben Wales verlassen - ein Binnennachwort
Ab September 2020 stammen die verifiktionalen Texte aus Deutschland. Wir listen sie im Block unten. Binnenvorwortfrei. Denn wir haben uns entschieden, einiges zurückzulassen. Zur Zeit denken wir darüber nach, ob wir stattdessen Binnennachworte schreiben wollen (Stand: 11. Juni 2021). Eine Googlesuche ergibt keine Einträge. Sollten wir also endlich einmal innovativ sein? Nicht nur billiger Abklatsch? Aber wir wollen doch auf keinen Fall innovativ sein! Daher belassen wir es mit einem Pateneintrag zur Idee der Binnennachworte. Wer also sich glaubt, dieser Idee annehmen zu wollen. überweise uns bitte vorher rechtmäßig Geld, wenn möglich viel, wir wollen nämllich Ynys Faelog kaufen. Wir, also die NWK AO. Und Ynys Faelog kostet eine Millionen Britische Pfund. Da hilft nur Patenthandel. Dies ist kein Scherz. Ynys Faelog ist UNESCo Weltkulturerbe, ist Heiligenstätte des Fluxus. Wir müssen Sie vor der Kommerzialisierung retten und untergehen lassen.
Also, liebe Leser*innen, greifen Sie zur Feder, schreiben Sie Binnennachworte und Schecks für die NWK. Wir wissen, dass Sie großzügig sind, sonst hätten Sie Ihre Zeit nicht hier verbracht, Ihr Herz für uns geöffnet.
Berlin, Reichstag
Deutschlandsuche 202.0 oder: Flaggefahn
Deutschland
Wir haben Wales verlassen, hinter uns gelassen im wahrsten Sinne des Wortes, denn fährt man mit dem Auto und fliegt mit dem Flugzeug, ist der Ort, den man verlässt, stets hinter einem, es sei denn man ist superreich und fährt Limousine und fliegt Privatjet. Doch über diese Welt denken wir nicht nach, weil sie uns nicht die nächste ist.
Stets nah war uns bislang in allen unseren Aktionen die NWK-Fahne. Sie auch wollten wir herüber- und hinübertragen (wir kennen keine Standpunkte, daher ist das herüber uns immer auch ein hinüber) – nicht jedoch als Fahne, denn Reisegepäckbestimmungen und Budget lassen nur Flaggen zu. Sie auch wollten wir zur Avantgarde der Afongad in Deutschland machen
Wir trugen die Flagge der Fahne zunächst nach Berlin, wohin uns Umplanungen verflogen hatten. Erster Einsatz: Bundestag, ja Reichstagsgebäude. Hier bzw. dort (gleiches Standpunktprinzip) war sie nicht gerne gesehen, denn Fahnen auf dem Reichstaggebäude sind politische Statements. Auch die NWK, die alles andere ist als Politik, wird als Fahne auf dem Reichstag zur Politik - und daher unmöglich. NWK als Politik ist nicht NWK, sondern NWP. NWP steht für Stalingrad der Kunst. Indoktriniert von einem einstündigen Vortrag im Plenarsaal der bundesrepublikanischen Demokratie, der Transparenz durch Glasdraufsicht heuchelt, flohen wir von Sinnen auf die Kuppel, dem Glaspalast des Staates, um unter Flaggen auch Flagge zu zeigen, nämlich die der Kunst, die die der Politik ihren Platz zuweisen sollte. Politische Flaggen sind eindeutig, die Flagge der NWK aber undeutig. Glaubten wir. War unser Ansatz, der vielleicht durch vorgehende Indoktrination zur Überzeugung sich sedimentiert hatte: Nebenwirkung des Stillsitzens: Man ideologisiert sich selbst in Stein ohne Anstoß, also bewegungslos und daher bedroht zu entkunsten. Geladen mit Fluxus waren wir eingetreten, verkrustet ausgetreten, und so ergab sich auch kein Gedanke beim Anblick der schön darniederliegenden Hauptstadt. Die Vortex der Kuppel bietet keinen Voskopunkt, ist Pseudobewegung auf Standpunkt (Reichstag).
Weder Fahnenschwenker noch Flaggenhisserfilm
Doch das erkennen wir, die wir – offenbar als Botschafter der NWK – ausgezogen waren aus Wales erst jetzt, im Nachhinein. Damals, auf der Kuppel ohne Gedanken konnte dieser Gedanke nicht sich zeigen. Es zeigte sich aber anderes, ebenso wertvolles. Wir wissen, etwas zeigt sich nur durch Aktion. Daher unsere Aktion auch in Deutschland unbedingt eine Fahnenschwenkeraktion. Die in Wales, Wuppertal, Wolf Vostell und Wrexham Lager begründete DWF und NWK wollte auch in Berlin sich in Fahnenschwenkerfilm wiederfinden. Doch kaum waren die Waffen gezückt: Kamera und Flagge, verzückte es sie durch unverzückte Sicherheitssecuritywachmänneraufpassern. Die Plötzlichkeit des gebrüllten Verbotes wiederum verzückte mich, uns glaube ich nicht, aber doch mich. Plötzlichkeit ist nämlich Hinweis auf Sich-Ereignen. Was sich aber ereignete war ein Platzverweis für die missverstandene NWK-Flagge. Missverstanden aber war die Flagge nicht von den Wachmännersecuritysicherheitsaufpassern, sondern von mir, denn: Die NWK-Flagge, ja eine Flagge jeder Art, auf dem Reichstagsgebäude in der Hauptstadt Berlin nicht zu missverstehen, weil sie nur eines ist: politisches Symbol. Auch vor dem Bundeskanzleramt sollte die NWK-Fahne politische Aussage bleiben. Keine Fluxurisierung von Politik per Fahne oder Flagge möglich. Stattdessen ereignet sich Gefürchtetes: Politisierung von Fluxus. Brutal und doch so subtil, wie demokratische Politik meist ist. Denn sie haben ja Recht, die Aufpassersecuritysicherheitswachmänner, nicht nur weil sie geschrien haben, uns anbrüllten, die Fahne in den Sack zu stecken und in die Spree zu werfen, wie ungewollte Katzenjungen. Sie haben Recht, weil das demokratische Recht bei ihnen ist, an ihrer Seite steht, an die sich heranzupirschen die NWK versucht hatte. Erwischt wurde die sich Anpirschende, vom Recht und von den Rechten. Die hatten tags zuvor nämlich ihre Fahnen geschwenkt und den Reichstag gestürmt, unsubtil brutal, und damit alles politisch schon zubetonierte noch versiegelt. Zubetoniert wie das Regierungsviertel ist, im schönsten Stahlbeton, mit wenig Kunst am Bau. Und wenig Kunst im Bau. Und nun, verfluchtem Dank der Rechten, ohne Kunstbau-ch.
Mag sich die NWK auch naiv als erste auf dieses Pflaster rhinitischer Undurchlässigkeit für Anderes, das von den Rechten erkaltet und erkältet worden war, getraut haben, ob es geholfen hat, bleibt fraglich. Ein Fahnenschwenkerfilm wurde es nicht, auch kein Flaggenhisserfilm. Gezeigt hat sich die NWK hier nicht, sichtbar aber wurde doch etwas anderes, das eventuell wertvoller ist, als jeder Fahnenschwenkerfilm. Unsere aktive Anwesenheit nämlich machte die Wunde sichtbar, die vortags medial nur als Verwundung ausgestellt worden war. Ja, vielleicht ist es eine Überlegung wert, dass sich mit unserer Flaggenaktion nicht nur die Wunde zeigte, sondern gar die Verletzlichkeit.
Schlingensiefs Schlinge
Welche glückliche und wertvolle Überlegung. Denn mit ihr kämen wir Eingeweihten auch in diesem Text zu Schlingensief. Der hatte auf seiner Deutschlandsuche `99 noch gefordert, die Berliner Republik habe ihre Verletzlichkeit zu zeigen und vor allem sich selbst gegenüber einzugestehen. Das Reichstagsgebäude also endlich zu dem Siegfried geworden, den Schlingensief 1999 in Berlin nicht mehr meinte finden zu können, und daher ausgezogen war in die Provinz, wo ihm nicht nur Siegfried, sondern auch Hagen, Alberich und die Rheintöchter begegnen sollten. Dreißig Jahre später also endlich Siegfried zurück in Berlin als Berlin, wenn auch viel zu spät und noch dazu nicht dank Recht, sondern dank Rechter. Das wäre nicht in Schlingensiefs Sinn gewesen, aber war auch 1999 auf der Deutschlandsuche schon mit den Kameradschaftsabenden seine Ahnung, wo alle Ideologien zu Wort kamen und sich gegenseitig in Ratlosigkeit spiegelten. Wir, die billigen Schlingensiefabklatscher, erkennen nun, dass wir uns mit unserer NWK-Flagge, unserem NWK-Fahnenschwenkerfilm als Gründungsaktion der NWK-AO eine Schlinge gelegt haben, die sich erst am Reichstag nach beinahe sechs Monaten Fahnenschwenken zuzog.
Drache, Draig Jonathan Meeses
Verletzlich sind wir alle, nicht nur die Demokratie. Das wussten schon die Dichter des Nibelungenliedes, deren Nachfahren es nur allzu oft vergessen haben. Das war ja Schlingensiefs Ansatz. Den wollen wir also, billig wie wir sind, kopieren, wie wir schon die Ursache im Fahnenschwenkerfilm billig kopiert haben. Wenn wir auch alle verletztlich sind, so ist nicht alles auch ideologisch. Der Reichstag ist es, ob demokratisch oder undemokratisch, und er ist ideologisierend, wenn auch nicht unbedingt mit seiner Ideologie, so doch mit dem ideologischen Kern eines jeden, der sich in seiner Nähe vom Kern zum Austrieb bündelt. So geschah es auch der NWK. Das ist das ortsspezifische des Regierungsviertels. Wir hätten auch Foucault lesen können, haben aber stattdessen es erfahren, leibhaftig.
ist das nun ein Problem? Oder gibt es eine Lösung. Wir versuchen es zunächst mit einer Folgerung, die keinen Schluss kennt, denn Schlussfolgerungen sind ideologiegefährdet. Unsere Folgerung also zunächst: Fahne und Flagge der NWK sind zu entideologisieren! Waren sie einmal politikfrei, waren sie einmal unsinnig, so hat der Reichstag Fahne und Flagge der NWK zu politischen Symbolen kanalisiert, zivilisiert. Dabei hatten wir sie doch erst vor einigen Wochen zur wilden Barbarei der Kunst entlassen, entleibthaft gewissermaßen – eine blutige Angelegenheit mit lautem Ja zu Werner Nitsch. Aus eigener Kraft.
Die aber reicht nicht gegen die Politik. Wir brauchen also Hilfe, wir brauchen den entideologisierten und entideologisierenden Meister, wir brauchen Jonathan Meese, wir brauchen seinen Drachen. Sein Drache im Übrigen war Gründungsmitglied der DWF, der NWK, er war der Anfang, er war unser Wegbegleiter und Schutzheiliger (siehe Foto). Denn wir wussten: Der Drache kennt keine Ideologie, sein Feuer verbrennt jede Ideologie. Aus diesem starken Drachen musste die Neue Walisische Kunst entstehen, in der Heimat der Drachen: Wales. Doch kaum hatten wir uns vor sechs Monaten im Drachen als NWK erkannt, zog der Drache gemäß dem Fluxusprinzip weiter. Er verschwand aus unserer Ikonologie, blieb einzig noch als Nachbild der NWK sichtbar. Schaut man lang genug auf unser Fahnenlogo, schließt dann die Augen, leuchtet der Meese-Drache auf (Testen mit Foto!). Wir wollen also wieder den Drachen sehen, er soll uns Glühwürmchen sein und Nachglühen im Inneren hinter der Retina. Kontaktaufnahme mit dem Drachen, seinem Meister und der Kunst. Nur so Endsieg der Kunst möglich.
Die Aktionssekretärin hat einen Auftrag. Der ist klar und ideologiefrei. Der Auftrag wurde nur erkannt im Anblick der Wunde und der Einsicht von Verletzbarkeit und Verletzlichkeit. Wo da der Unterschied liegt, tut hier nicht zur Sache. Die Sache ist die Kunst, unsere Sache ist die NWK. Ist Fluxus. Wir sagen Ja! Ja zum Drachen und daher Ja zu Meese. Sagt er auch Ja zu uns?
Wir wurden gefragt: Wo ist das Foto. Das Foto ist auf der Homepage-Ankündigung dieses Textes. Hier.
Berlin, Band des Bundes
Wir hätten uns so einiges einzuräumen. Ihnen gegenüber schon seit langem, aber auch uns selbst gegenüber. Denn bislang haben wir nur ausgeräumt, bis ins Innerste, aber das war ja auch nur gefaket. So sind die Wege zu uns, also dem je anderen, vielleicht nicht erst seit Kurzem, damit hier nicht immer nur von Länge die Rede ist, zugeräumt. Räumung wäre angebracht, daher ist zu reden heute über Räume und Räumlichkeiten.
Der Raum ist meistens leer, auch wenn er voll ist, denn der Raum ist immer etwas Geräumtes. Das Wort selbst ist außerdem ein Resultat von Räumung, wurde aus ihm doch das „T“ entfernt, um so vorne, ganz zu Beginn des Wortes also, Platz zu schaffen. Die Frage ist nur, wofür? Für die Realität, der in Träumen kein Plätzchen eingeräumt wird? Oder wird der Traum erst durch die Räumung des Ankers, der das „T“ für den freien Raum des Traums ist, erst wirklich frei? Der Raum ist also der von Anker gegangene Traum, ist Traum auf Reise, ein Traum, der sich selbst Raum schafft, an einen anderen Platz sich stellen kann, einen Platz, der vom Räumen übrigens nie fokussiert wird. Gewisserweise liegt der neue Ort des Weggeräumten außerhalb des Blickes, welches uns das Wort „räumen“ einräumt, sprich gewehrt. Im Falle des Traumes aber ist es gerade ein anderes, der geräumte Traum wird ja genau der Raum, den das Räumen sonst aus dem Blick verliert. Somit ist das geräumte Wort Traum – also Raum – die Ergänzung des Räumens, erst durch den Traum – den befreiten, in Bewegung versetzten Traum – also gewinnt das Räumen eine neue Perspektive von sich selbst, nicht nur von seiner destruktiven Kraft, sondern auch seiner schöpferischen: im Räumen eben auch Raum zu schaffen nicht nur im Vorhandenen, sondern auch im vorher nicht Gesehenen, jenem Ort wohin das Geräumte geräumt wird. Wo, woher und wohin finden also im Denken des Räumens als Raum des Traums zu sich.
Von diesem zu sich finden können wir natürlich nur träumen, dabei sind wir schon längst von Anker gegangen, sind aufgebrochen, haben unseren einstigen Platz aufgegeben und suchen uns. Einbefunden haben wir uns in Berlin, wo kaum noch leerer Raum zu finden ist, denn überall sind Träume unterwegs. Wir wollen uns aber nicht in Wortkreisen bewegen, die bringen einen nicht weiter und nicht jedes Echo muss ein Echo finden. Dabei freilich suchten wir ja Kreisräume auf, Rundes – gar nicht so sehr, um unser eigenes Echo zu hören, sondern eher das des anderen, von dem man sich die Einlösung der Geheimnisse versprach, die man ihm zugeschrieben hatte. Wie sonst wäre der andere zu erklären gewesen. Zwangseinräumung des Geheimnisses also war geplant, an jenem runden Ort, wo der Stein nicht Anstoß ist, sondern Verräter. Denn nahe des Berliner Fluxus finden sich Steinkreise, den walisischen Gorsedd kaum unähnlicher möglich, die flüstern. Freilich nicht von selbst, wohl aber jene Worte die ein anderer in der Ferne ihnen zu haucht. Das alles mit physikalischen Gesetze leicht zu erläutern, jeder walisische Zauber – so gefaket freilich wie unser ausgeräumtes Inneres – fehlt dem kalten Stein an der Spree. Deshalb wurden ihm Freunde an die Seite gestellt, ich spreche jetzt nicht von uns, sondern vom Paul Löbe Haus und dem Reichstagsgebäude. Zu dritt bilden sie das Band des Bundes. Ein freundschaftlicher Titel, Band des Bundes, der uns doch sehr zusagt. Ist das Band doch ein breitgetretener oder breitgeredeter Faden, spinnte man es also durch die Spindel, könnte das Band des Bundes auch ein Faden des Bundes sein. Nur Stein, hier vornehmlich Stahlbeton lässt sich nur schwer spindeln. Dennoch, ein Band kann auch aus vielen Fäden bestehen, gewissermaßen hier Fäden der Freundschaft. Band des Bundes gedacht als Fäden des Freundschaftsbundes. Das Band zwischen der Freundschaft ist der Bindestrich zwischen Deutsch und Walisisch. Der Band des Bundes ist die Deutsch-Walisische Freundschaft. Ausgiebig haben wir vor wenigen Tagen, auch damals in Berlin, auch damals im Auftrag der Freundschaft, unseren Text zum Faden aufgelöst, jetzt sehen wir, wo sich dieser Faden spannt: Zwischen dem Deutsch und dem Walisisch – und damit strickt er die DW Freundschaft. Faden, Text, Band. Das sei hier nun festgehalten mit dem T des Raumes. Das T macht ja gewissermaßen Nägel mit Köpfen und sieht auch so aus, als t gleicht es sehr schon dem Anker: also große Nägel mit Köpfen, kleine Ankerchen, die leicht zu ziehen sind, und nur schwer zu setzen. Ein Teil von uns hatte auch einmal in Marie Elisabeth Lüders Haus an der Spree wohlbekannt, ein Ort, an dem wir schon viel geflüstert hatten, Freundschaften begangen aber auch beendet worden waren.
Wie immer war die Hoffnung auf geflüsterte Geheimnisse schon auf dem Weg aufgebraucht und so fehlte dem Raum jede Magie, ein lustloses Aufsuchen des physikalischen Gesetzes ohne jede Versuchung. Aufgehellt nur durch astreines Kiezdeutsch von turnenden Passanten. Mehr war nicht zu vernehmen, vielleicht weil ein Teil von uns den Ort nicht verstand oder zu schwach war, die eingeräumten Möglichkeiten zuzulassen.
Dabei bergen die stahlbetonierten Steinkreise hinter kaltschönem Großglas den zweitgrößten Anhörungssaal des Bandes. Hier tagen Untersuchungsausschüsse, sprich der durch den Beton eingeräumte Raum ist ein Raum des Sprechens, der Rede – des Preisgebens von Geheimnissen hinter Glas. Das Glas also signalisiert die Transparenz, die untersuchende Anhörung implementieren sollen, aber doch eigentlich nur an den Orten stiften, die das einräumen nicht in den Blick zu nehmen vermag, es sei denn es wäre ein Traum. Dabei ist dem Saal, als wolle man Aufrichtigkeit fördern, die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages zur Seite gestellt, jene Räumlichkeit, in der Verschlusssachen des Bundestages eingesehen werden können. Einsehen wollen wir also Intransparenz und Unaufrichtigkeit im Anhörungssaal nicht ohne weiteres, aber bedenkt man, dass einsehen im Falle der Geheimschutzstelle tatsächlich einen Raum denkt – wie wohinein ließe sich sehen, wenn nicht in etwas Raumartiges – so ist die Verschlusseinsicht vielleicht auch kein echter Durchblick, sondern nur ein Ansehen von Komplexität, in der es viel Aufrichtiges geben kann.
Wir beugen uns also der Schwere dieser Gedanken, die uns zum Versorgungstunnel sinken lassen, der uns natürlich ebenso unzugänglich ist, wie die unausgesprochenen Geheimnisse im Betonkreis.
Daher gibt es auch nichts zu berichten, wenig Erkenntnisse abgeräumt, nur Kalauer. Vielleicht auch deshalb die Verstimmung, die an dem Ort Bahn brach und erst später sich entfädeln sollte?
Eine nachzureichende Information:
Die sechs Meter hohe Bronzeskulptur „Werdendes“ von Tony Cragg auf der Stadtloggia des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses stammt von dem international renommierten Bildhauer Tony Cragg, der aus Liverpool stammt – jener englischen Stadt, die Wales längst eingebürgert hat – und heute in Wuppertal lebt und arbeitet, also einem jener Orte, in denen sich die DWF gründet.
Daraus wäre was zu machen gewesen, doch Verstimmung drückt auf die Glieder und damit aufs Knie, dass weder baumeln und somit noch denken kann.
Wir gehen also als Krise aus diesem Ausflug hervor. Da helfen weder Bände noch Bünde.
Berlin, Walter-Benjamin-Platz
oder: Marianne trifft Benjamin an der Lausitzer Mühle
Lausitzer Platz
Wir hatten Vorbereitungen getroffen und der Ausflug war geplant worden. Wir waren ausgerüstet, mit Forschungsinstrumenten, die unser Ausflugziel – wie uns später deutlich wurde – uns in den Kopf gesetzt haben wird, einige von uns war gar der aufzusuchende Ort bekannt. Ja, diese Bekanntschaft war der Auslöser für die forschende Rückkehr. Walter Benjamin galt es aufzusuchen, der Ort nach ihm benannt, ihn also in seiner Namensgebung herbeirufend. Doch nicht Benjamin kam, sondern wir. Wenigstens sind einige von uns Benjamins, Benjamins waren wir aber alle, denn jüngere Kinder der Kunst als uns sind noch nicht gefunden. Diejenigen, der der Platz nicht fremd war, verkündeten einen Rettungseinsatz, nur Totes sei dort zu finden, kaum Hoffnung hätten sie für diesen Ort, dessen Namensgeber am Ende seines Lebens gar nicht mehr nur kaum Hoffnung hatte, sondern gänzlich keine. Mit gemischten Gefühlen durften wir also aufbrechen, beste Voraussetzungen also vielleicht nicht für die Rettungsmission, wohl aber doch für die Suche nach uns selbst. Die war diesmal dringender denn je, hatten wir doch alle solange nebeneinander gegessen, gewerkelt und geschwiegen, dass wir einander ins Exil aufgebrochen waren. Von dort waren Berührungen unmöglich, Kunst also durch uns selbst sehr klein geworden. Freilich, das schreibe ich jetzt, wo ich weiß, was da noch kommt, aber damals durch Berliner Einbahnstraßen marschierend, fühlte man nur die Erschöpfung, die das Schrumpfen kostet. Sowas schlägt auf den Appetit, was einem dann permanent zum Vorwurf gemacht wird. Aussichtslose Lage auch deshalb, weil ein verdorbener Appetit auch die Gedärme eindämmert, wie soll da noch Fluxus entstehen?
Der Ausflug also war dringend nötig, Erlösung – wie so oft auf unseren Forschungsreisen – sollte uns gelten, der Ort nur ein Katalysator. Wie aber sollte das Tote des Walter Benjamin Platzes uns erlösen? Wiedergeburt? Große Worte, an die wir damals ohnehin weder glaubten noch dachten, denn unser Denken war schon lange nicht mehr Visionär, eher kurzsichtig, von egoistischen Verplanungen geradezu eingenommen, besetzt, okkupiert, unterworfen. Das zumindest war deutlich zu ahnen und sollte nach vorgespieltem Appetit, gewissermaßen einer Henkersmahlzeit, auch angesprochen werden.
Mariannenplatz
Die Ansprache, rhetorisch jede Brillanz missend, maskenatemlos und stockend wie der Berliner Verkehr, war kommunikativ, und man unterbrach den Rettungseinsatz, um eben diesen zu retten. Denn wie sollten Retter zu Rettendes retten, wenn sie selber sich zu retten versagen? Das zu Rettende rettet den Retter, hätte vielleicht Müller sagen mögen, und der hat hier alles zu sagen. Denn Nahe des Mariannenplatzes, auf den unsere rettungslose Truppe zusteuerte, verlebte Müller die letzten Jahre nach der Wende. Von Totem wäre hier also in jedem Sinne noch eine Menge zu schreiben. Ich will mich aber nicht treiben lassen, von den großen Strömen der Literaturgeschichte, sondern so auf den Mariannenplatz zusteuern, wie wir es damals ja eigentlich nicht taten. Der Fliehende steuert nicht zu, Panik kennt kein Ziel außer sich selbst, also dem Überleben. So dramatisch freilich stand es um uns nicht, denn wir wussten, zu retten gab es nur den Rettungseinsatz, wir waren längst schon verloren, es galt eher Wunden zu versorgen und seelische Inventur zu machen. Denn deren Ressourcen waren erschöpft, zumindest bei einem Teil der Forscher, jenem Teil der großzügiger geteilt hatte. Verschwenderisch aber war diese Großzügigkeit gewesen, wenn auch nicht umsonst. Vergeblich allerdings schon, wie sich auf der Bank, eine von vielen auf dem Mariannenplatz, herausstellte. Ja, man hatte falsch investiert und wollte sich aus dem Geschäft zurückziehen. Vom Schreibtisch aus ergeben sich in diesem Bild – das sich ja nur ergab aus der materiellen Situation der Gegebenheit und weil uns Banken jeder Form seit längerem begleiteten – weitere Abwege, auf die wir uns damals nicht begeben hatten, weil wir ja eine Mission hatten. Aber welche Rechnung glaubt man zu begleichen, wenn man sein Leben lang nur richtig investiert? Welche Seelenanlagen sind es wert, den Bankrott nicht zu riskieren? Wir fanden zwischen unseren Worten offenbar keine Zinsen oder Gutschriften, die wir noch abzuheben wären, wenn die Schuldner auch darum baten. Offenlegung der Verhältnisse und transparente Haushaltsplanung wenigstens fanden statt, und so fand man wieder in Bahnen, die zum eigentlichen Ziel des Tages führten.
Walter Benjamin Platz
Der Rest der Anreise kein Marsch, sondern Truppentransport. Die Ankunft am Walter Benjamin Platz eine betriebsame, ein Schock daher der unproduktive Stillstand am Ziel, großflächiger Stillstand- schlimmer noch als ein Friedhof, wo wenigstens die Würmer arbeiten und Leben in die Bude bringen. Hier keine Buden, aber totes Lebensanzeigen: „Glatt macht sexy“, und wenn das zutrifft, wäre der Walter-Benjamin Platz ganz sicher besonders sexy, denn glatt aufgetragen scheinen die Granitplatten der Freifläche des Platzes. Ragten sie auf und lägen sie nicht ermattet glänzend darnieder, hätten sie als Friedhof den Tod verkündet, den sie tatsächlich ausstrahlen. Auch die hochsommerliche Klimawandelhitze Berlins verleiht diesem Ort keine Wärme. Die Kälte gefriert in den Kunststeinsäulen, die sich zu Kolonnaden einreihen, hinter denen sich die vereinzelten Restaurants und Ladengeschäfte verbergen: „Autoren Bücher Künstler - Geistesblüten“ muss dieser Ort schon schriftlich behaupten, in einer lauten Typographie, die dem neoklassizistischen Raster, welchem dieser Platz folgt, nicht heißen Hohn, sondern kalten Lobpreis wispert. Blüten treibt hier nichts mehr, denn unter den Granitplatten windet sich kein Wurm, der die verdichtete Erde auflockern könnte, damit Wurzeln schlagen könnten. Unter diesen Granitplatten schlängen sich nur schwere Autos durch die zwei Etagen der Tiefgarage, ohne den Geist des Ortes zu spüren, der ihm längst entflohen ist und hier nicht mehr nachhallt im Hupen ungeduldiger Chauffeure. So bricht von unter den Granitplatten bricht nichts durch, weder Blüten, noch Hupen, noch Geist. Vielleicht war der Platz, noch bevor man ihm Benjamin zugedachte, schon zu lange Parkplatz gewesen, so dass Reifenspur über Reifenspur alles zerfahren hat, was der Ort zu erzählen hätte: Von den Unterkünften für Zwangsarbeitern, oder von den Kinderspielplätzen – oder von Walter Benjamin.
Wie also den Platz wieder zum Sprechen bringen, wie die Raster des Todes aufbrechen, wie Wurm sein; oder Maulwurf, denn Müller hatte sich ja im Geiste uns angeschlossen?
Wir kamen gerüstet und erprobt. Denn die Truppe hatte sich geübt in unzähligen Momenten des Eingedenkens, ja können nicht alle Verifiktionen, Ver-Ifiktionen, alles Passiertes auch gelesen werden als Prelude, als Exposition und ja als Schule der Rettung? Erlösung hatten wir oft genug gesucht und uns dank selbstgelegter Schlingen vor ihr gerettet. Oft eher unfreiwillig hatten wir unseren Vorgängern und Vorschriften gedenken müssen, ihren Wahrheiten zuhören und nachfliehen müssen – waren wir durch all das etwa nur als Übungseinheit gegangen?
Wer weiß, was wirklich ist, wahr zumindest bleibt, dass die Ursache in der Zukunft liegt und diese war früher das damals, das ich hier und jetzt beschreibe, in einem Text, der alles angedachte und eingedachte zur Faser nimmt. Weit sind wir gereist, weit marschiert, durch viele Länder, haben vermessen und uns als Landvermesser imaginiert, wie der Heiner, wie der Franz. Und waren wir etwa doch nur Schneider? Also, lauter Faserländer: Deutschland jetzt, Wales früher und hoffentlich bald wieder. So, schreibe also nicht ich hier, sondern gehe durch Schnittmuster von Müller, Kafka, Kracht und Benjamin? Eine Musterschülerin gar? Muster ist ja der Komparativ von „ich musste“: musste, muster, mustest. Am Ende steht also das Gegenüber als ich, das Superlativ des ich ist also das gezwungene Du. Das ich bislang noch nicht in den Mund führe, denn ihm erwehre ich mich mit dem wir und dem man. Man hat nicht genug geschrieben über die Schnittmuster, die ich mit meinen Worten nicht dachte abzutasten. Ein einschneidendes Erlebnis der heutige Schreibprozess. Ich kenne die Anklage, die ich freilich nie gegen mich führen würde, denn wir, von der NWK kennen keine Poetik und keine Regeln der Dichtkunst. Verdichten wollten wir nie, vergehen wollen wir, daher auch die Rede von Erlösung: Lösung werden, 1:100 000 000 000 000 oder so – flüchtig sein, verkennbar auch uns selbst, vergangen bereits eigentlich. Denn 1 zu sein unter 100 000 000 000 000 könnte eine Lösung des Überlebens sein. Gewebe freilich ist diese Formel nicht, auch wenn sie Text evoziert. So ist uns Benjamin, den wir mit unserem Berliner Ausflug aufzusuchen gedachten, etwa ebenso fern, wie Benjamin dem Platz fern ist, der mit seinem Namen ihn doch herbeirufen will? Oder waltet auch in uns das webende Prinzip des Erinnerns, kann auch unser Text die Verdichtung von Lebensfasern, die das Erlebte zurücklässt wie Ariadnefasern, nicht verhindern, wie sehr wir es auch versuchen im Spinnen der faserigen Wolle des Erlebten?
Ja, wir glaubten doch uns der Spinne gleich, suchten ihre Fallen in Lichtbildern zu fassen, lasen unsere Philosophie der Schlingen Siege in ihren Anarchitekturen filigriert. Meister verdichteten Weltgewebes unsere Vorbilder, fliehen wir uns in das Spindeln von Verifiktionen, die kein Textum haben, sondern einen Faden – Ariadne eben. Denn wir sind uns selbst ein Labyrinth, dass keine Aufsicht kennt – und so bleibt der Faden letzte Hoffnung uns einmal zu finden. Zugleich war es uns, die wir uns als Afongad verstehen, freie Entscheidung, ohne Aufsicht zu forschen. Kartenlesen kann ein jeder, Baupläne auch. Und die Aufsicht ist ein Wärter im Panoptikum. Doch wir wollen weder kontrolliert werden, noch kontrolliert sein – wo kämen wir sonst hin? Nämlich nirgendwo außerhalb des Plans, denn selten reicht ein Teppich über das Wohnzimmer, das gemütliche, hinaus. Die Afongad aber will den Fluxus, will die riskante Reise – und wenn sie sich manchmal auch ein Floß baut, so werden die Baumstämme mit eigens gespinntem Faden verknotet. Freilich ist das Floß eine Falle, ein Gebiet, das wir als gesichertes Terrain des Überlebens glauben und dann doch untergeht. Die Knoten also eigentlich Schlingen, geschnürt aus unserem eigenen Faden. Auch hier eher der Spinne gleich, sie ein Jäger mit Faden. Sie ein Fallensteller der Hoffnung, denn ist man klein genug erlaubt das Netz der Spinne ein Durchkommen. Wir sind auch für die löchrigen Schlingen der Spinne, die das Durchkommen erlauben, das uns ein Entkommen des Sinns vom Ausdruck sind. Das Netz ist eine Falle, es klebt und fängt klebrig seine Beute – manchmal Kunst, manchmal Bedeutung, manchmal gewordenes Ungeziefer, das sich befreit glaubte, manchmal Regentropfen.
Die Schlingen der Spinne freilich stellen sich selber Fallen, die jenes Entkommen, das da oben bereits dem Sinn seines Ausdrucks geflohen ist, zulassen. Das ist zum Beispiel wie folgt zu verdenken: Ist die Kunst klein genug, könnte sie berührungslos durch die Schlingen des Spinnennetzes schlüpfen, ohne dass diese sich mit der Kunst verkleben.
Drei Sachen sind hier zu bedenken:
1. Eine Schlinge ist sich selber immer auch eine Falle, denn zieht sich eine Schlinge um eine Beute herum, hört sie auf Falle zu sein und ist nur noch Fessel.
2. Die mit der Kunst verklebte Schlinge ist zur Beute geworden. Wir aber denken die Kunst als Jäger. Nun könnte man über Punkt 1 zu dem Gedanken kommen, dass die Beute Kunst im Spinnennetz auch Jäger war und das Spinnennetz die Beute.
3. Eine Kunst, die berührungslos durch eine Schlinge entkommt, ist wahrlich kleine Kunst, denn Kunst, die nicht berührt, ist klein. Groß ist Kunst, die berührt und Schlingen zum Zuschlingen berührt. Bitte nicht berühren gilt nur für harmlose Kunst, die weder Jäger ist, noch Beute sein wird. Bitte nicht berühren gilt für die kleine Kunst in Museen, für die wir erst noch Fallen erfinden müssen, damit sie (wieder) groß werden kann.
Und abschließend nicht als Punkt 4, sondern für sich allein der Fallensteller Kafka, der diesen Faden hier abschneidet, weil er das große dichte Bild der Literatur gewoben, gesponnen und verstrickt hat: Die Literatur sei ein Käfig, die ihren Vogel sucht.
Unsere Bemühungen, am Walter-Benjamin Platz Fasern, Fäden und Gewebe zu finden, waren am damaligen Tage erfolglos, wir fanden nur Totes, Echoloses. Wir kamen ausgerüstet, hatten Sprache verwoben zu Sprechgewebe (siehe Foto) und wir versprachen es auf dem Platz – doch der Geist, der hier angeblich erblühen sollte, war schon längst verpufft in den Entlüftungssystemen der Tiefgarage – und im Vakuum gibt es keinen Laut.
Doch hier, im Moment, die man die Schreibszene nennt, hören wir viele Stimmen, einige haben wir benannt. Sie werden uns hoffentlich verzeihen, dass wir ihre Texte aufschnüren. Wir haben uns vor Jahren verlaufen, unser Faden kann nicht lang genug sein. Wir sollten anfangen Knoten zu machen. Sind unsere Merkstellen, Merksätze Knoten?
Wir haben einiges gelernt heute. Die Einsicht in die Kontoauszüge auf dem Mariannenplatz war erleuchtend, Müller anzutreffen hat uns aufgeladen mit Hoffnung, die Benjamin fehlte. Wir wissen uns glücklich. Und wir wissen uns traurig: Walter-Benjamin Platz, Berlin.
Wuppertal, Drache, Löwe, Elefant
Der Drache hat uns in Berlin in Bewegung versetzt, angeheizt von seinem Feuer, das vielleicht nur in Deutschland ein unideologisches ist, bewegten wir uns so schnell von uns weg, dass wir uns schließlich in Wuppertal fanden. Wuppertal ist ein Ort der Drachen. Bald werden wir auch in Bonn sein, wo sich ja bekannter Weise der Drachenfels befindet. Doch das war zu Wuppertaler Zeiten noch nicht klar. Auch das mit dem Drachen teilweise an den Haaren herbeigezogen, die der schuppige Drache nicht trägt und daher sich selbst kein Eulenspiegel sein kann, obwohl wir ihn doch manchmal in Sümpfen imaginieren, denn Sumpf oder wenigstens Marsch gibt es in Wales zu Hauf. Herbeigezogen also wohl eher an der Löwenmähne, die dem Wuppertaler zu Gesichte steht, wenn er in seine emblematischen Spiegel schaut. Die zweite Seite der Wuppertaler Medaille ist der Elefant. Der freilich wusste vom Drachen, dem nämlich, den er in sich selber zu schlummern träumte, weil er einst mutig sein wollte. Doch der Drache ist kein mutiges Tier, denn Mut braucht man nicht, wenn man dem Ruf der Kunst folgt und zu spielen weiß. Mut muss nur ein ideologischer Krieger kennen, ein Kreuzritter oder Soldat unter staatlicher Flagge – denn Mut braucht nur eine Sache, die nicht die wahre ist, also Ideologie. Der Drache aber braucht für die Kunst keinen Mut, denn sie ist keine Ideologie. Wie aber sollte ein kleiner Elefant wie Tuffi solches ahnen? Woher ist zu wissen, dass man den falschen Göttern sein Träumen weiht. Nur zu lernen ist ein solches Wissen, und zwar durch Scheitern, so dass einen die Götter fehlen. Von Göttern verlassen dastehn also eigentlich Emanzipation, der Schmerz des Verlassenseins also der Geburt gleich, Trennung von der Nabelschnur, durch die einen die Mutter Monate nährte. Einzig das Huhn nährt sich aus sich selbst im Ei, lehrte uns schon Schlingensief, als der sich von der Ideologie der Berliner Republik befreit hatte. Jede Schlinge ein Sieg, sich die eigenen Fallen stellen, so fiel auch Tuffi, gewissermaßen in die Falle, die er sich mit dem Traum vom schlummernden Drachen gestellt hatte, der weder in ihm selbst ruhte, noch an einem anderen Ort, denn Drachen ruhen nicht, Drachen sind in Bewegung – unaufhörlich, wie die Revolution, wie die Kunst. Doch was interessiert den kleinen Tuffi die Kunst, gar die Revolution. Er suchte nach Mut, Mut, die Höhenangst zu besiegen, die stärker war als das Schaukelbedürfnis, von dem sich der Kleinelefant längst emanzipiert hatte. Höhenangst nämlich setzt ein, wenn man den Göttern, die man anzubeten hat, zu nahe kommt, also gen Himmel wandert, klettert, steigt. Dann nämlich schleicht sich mit jedem Höhenmeter die Einsicht näher, dass da oben keine Götter sind, geschweige denn mutige. Dann setzt die Höhenangst ein, die die Spannung ist zwischen der frohsinnigen Zuversicht des Götterhimmels und der Tiefe der ängstlichen Seele, die von ihrer Verletzbarkeit weiß. Der Aufstieg ist also Beginn des tiefen Falls, die Griechen haben draus ein sehr erfolgreiches Genre entwickelt, das bis heute die Kino- und Theaterkassen platzen lässt. Doch auch das interessierte Tuffi wenig, als er vor siebzig Jahren – und wer könnte sich besser daran erinnern als ein Elefant – die Wuppertaler Schwebebahn betrat, ein Drachengefährt, wie er naiv und klopfenden Herzens glaubte. Das Herz aber klopfte bereits einen anderen Takt, den der Ahnung, dass der Fall aus der Ideologie bevorstand, denn da war kein Mut zu holen in den Götterdrachen und daher auch kein Drache zu finden in Tuffi. Die Geschichte braucht gar nicht weiter erzählt zu werden, sie ist bekannt, viel zu oft aber wird verschwiegen, dass Drachen zwar fliegen können, Elefanten aber nicht, auch wenn sie in sich einen Drachen hoffen. Und so plumpste Tuffi in die Wupper, statt übers Tal zu fliegen. Die Schwere der Entmutigung sucht das Wasser nicht die Lüfte. Der Drache freilich sucht alle Elemente, trägt sie in sich und lässt sich in ihnen treiben. Das erkannte dann auch Tuffi, der überlebte seinen Fall in die götterfreie Welt, in der er dann allerdings ein Leben als Zirkustier zu ertragen hatte. Helden der Freiheit müssen nicht immer freie Helden sein.
Frei fühlten auch wir uns nur bedingt, wenn auch beschwingt vom Gedanken an den Drachen und dem Ausblick auf die Schwebebahn. Die doch gewissermaßen ein mechanischer Drache – gleitend durch, über und mit Elementen, in ständiger Bewegung, stets schaukelnd. Daher Wuppertal eine Drachenstadt, nicht nur über Umwegen, sondern mit zweimal Umsteigen. Dadurch lernt man auch die Provinz kennen, der ja entweder der Mut fehlt oder die eben nur Mut hat – zum Falschen. Wir also bedingt Freien pendelten regional ins Tal, umgrünt vom Bergischen, das unter manchen von uns Gefühle weckte, die heute ideologisch zu ministerialen Begriffen sedimentiert wurden. Ich lasse es daher hier unbesprochen. Ansprechende Landschaft, reizvolle Gegend im begrifflichen wie natürlichen also. Und dann auf einmal, man hatte es trotz all dem Grün gar nicht mehr zu hoffen gewagt, plötzlich linker Hand, denn wir bevorzugen das Fortfahren entgegen der Fahrtrichtung, die Schwebebahn, an unserer Seite, die die Herzensseite ist. Dort schlug es geschwind und geschwinder, so schnell, dass es die Beine flott machte und wir die fahrende Bahn beim nächsten Halt verließen.
Endlich von dem stundenlangen Anblick unserer Selbst im Gegenüber befreit zog es uns dem Herzen zu. Ein Aufstieg ist es, des Gemüts, und mit arbeitendem Knie, also bald mehr denkend als fühlend. Kopflastig und doch mit schweren Beinen, die sich vom Herzen auch nicht mehr antreiben lassen wollten, bestiegen wir sodann die Schwebebahn, die, wenn sie steht, also am Halt stoppt, eher hängt als schwebt. Hängen ist, so lernten wir an jenem Tag, eigentlich kein schwebendes Stehen, denn die Schwerkraft zieht von unten und nimmt der Bahn das Schweben. Schwebebahn wird es erst, wenn die Fahrt der Schwerkraft ihren Zug nimmt, die Kraft nach vorn die Kraft von unten hinter sich herzieht: Das ist Schweben: keine Aufhebung von Kräften, sondern eine Umverteilung durch Bewegung. Wie Denken. Denken ist eigentlich Schweben. Schweben aber nicht automatisch Denken und Denken kann natürlich auch mehr sein als Schweben, Treppensteigen zum Beispiel oder einfach Baumeln. Im Grunde kann man Schwebebahnfahren als Denken verstehen. Dieser Text hier ja im Grunde eine Schwebebahnfahrt, also die Buchstaben auch nur aufgegriffen während sich das Denken abgespielt hat. Wir raten daher als Übung zur Veranschaulichung: Text Zeile für Zeile abschneiden und hintereinander kleben. Dann einfach abfahren und man wird eigentlich erkennen, was da vor seinen Augen sich erstreckt: Das der Wupper Tal des Denkens, Oberbarmen, Elberfeld, Vohwinkel und zurück bis zum Luisenviertel, alles durchdacht. Wer mehr dazu lesen will, dem sei der Benjamintext aus Berlin empfohlen.
Voilà, muss man bei den Kehrtwenden der Schwebebahn normalerweise aussteigen, hier darf man beim Denken sitzenbleiben und die Füße baumeln lassen. Mehr gibt es nicht zu sagen, denn es ginge nur zurück auf Anfang. Wir also in Wuppertal, mit uns selbst und dem Gegenüber, auf dessen Fortsein man sich leider freut. Fort hier im Sinne von weg, nicht von Burg. Denn in Burgen liegt keine Hoffnung, entgegen aller biblischen Weisheit, auch keine Drachen, denn Drachen fliegen. So wie bald das Gegenüber, wenn auch später als geplant.
Bonn, faUSt
I. Faustdicke Freundschaft im Blick
Ich, ja ich, trat eine Reise nach Bonn an, denn eine prähistorische Deutsch-Walisische Freundschaft hatte mich herbeigerufen im Namen von Dada für Dada und damit pure Deutsch-Walisische Freundschaft. Mehr als 40 Jahre Dada und Fluxus sollte ich erleben dürfen, leibhaftig mit der Faust aufs Auge. Sichtachse der Neuen Walisischen Kunst.
faUSt, beinahe so alt wie die Bundesrepublik, in deren alten Regierungssitz ich berufen war, sollte im Bonner Haus der Geschichte den Bonnern ein Bonbon, walisisch übrigens auch: Dada, avantgardistischer Musik auf die Zunge legen, unplugged, damit auch Altersdiabetiker genießen durften. Eine heikle Angelegenheit: faUSt, die ihre Existenz bislang außerhalb der Institution Museum freigelebt hatten, kommen den Vorgaben der Institution entgegen. Doch vielleicht entschuldigt Covid-19 einiges. Der Umstand, dass das Konzert (Link hier für Momentaufnahmen) im Museumsgarten stattfand, konnte den Kompromittierungsverdacht nur kurz vergessen machen: Der Garten ist ja kein Dschungel, der sich als Wildwuchs weiß, sondern höchst disziplinierter Ort gestutzter Zuchtpflanzen mit dem Ziel der Entspannung, sprich der Reproduktion der Arbeitskraft, die der Bundesrepublik und ihrem BIP wieder zugeführt werden muss. Nun möchte ich freilich noch den Gedanken anführen, dass diese Kanalisierung von Lebenskraft mit der Bezeichnung Museumsgarten gewissermaßen ausgestellt wird – die Gemütlichkeit und das Einverständnis mit dieser behaglichen Entmündung durch die kapitalistische Organisation von Arbeit, als welche die bundesrepublikanische Geschichte sicher auch zu lesen wäre, würde man diesen Blick nicht immer nur auf des Nachbarn Garten (DDR) werfen, diese und dieses sind im Bonner Museumsgarten anschaulich und einsichtig. Alles strahlt sanfte Kräftigung aus: Die Apfelbäume, der Nierenteich, die Heckenkunst. Ein aufmerksamer Blick also sieht hier den Kontext des Hauses der Geschichte der BRD wunderbar in eine Installation gesetzt. faUSt vielleicht sogar jenes Störelement, das diesen Installationscharakter erst wirklich sichtbar machte, denn eines war klar: faUSt waren dieser Installation nicht ureigen, ja schon beim zaghaften Soundcheck erklangen erfreuliche Unmutsbekundungen von Anwohnern, die offenbar sich den Freitagabend zur Regeneration für die kommende Arbeitswoche so ausgemalt hatten wie jeden Spätsommerabend seit Jahren: In Sichtachse mit dem Museumsgarten, den verbotenen Äpfel beim Verreifen zuschauen und sich am Fallobst mit Schadenfreude aufappeln.
Besonnen wie Institutionen nun mal reagieren, denn ein Souverän kennt keine Empörung, lud man den Anwohner zum Konzert ein, nicht ohne zu betonen, dass er damit einem historischen Moment beiwohnen könne. Solchen Angeboten geht man bitte immer aus dem Weg. Das tat auch eingeladener Anwohner, der mir somit irgendwie symphytisch wurde – ein Unding, mit wem man sich oft unfreiwillig in einem Gedankenboot findet. Aber so ist es mit dem Fluxus, der einen vorantreibt in Arme, die man lieber herzlich gemieden hätte oder an Häfen, die weiträumig zu umschiffen man sich einst vorgenommen hatte. Dank Fluxus aber die Bootgemeinschaft nur von kurzer Dauer, denn ich wurde von den Deutsch-Walisischen Künstlerfreunden gefunden. Der Museumsgarten auf einmal ein Wunderland, bedingungsloser Dada, Spaß, aber ernst, aber Spaß. In Blick, Akt, Klang der anderen ist rund schön, und es gäbe einiges zu beschreiben. Doch was im Museumsgarten passiert, droht Kunstgeschichte zu werden, und die Deutsch-Walisische Kunst ist keine Geschichte, ist prä- und posthistorisch, weil gelebte Gegenwart, ist Dauer. Dauer entzieht sich der Geschichte, auch wenn sie aus ihr hervorgeht. Wer Deleuze mag, mag das nachlesen, wie lesen nur vor, ich las nur vor, und zwar über den Zementmischer. Der, das vergaß ich zu sagen im Museumsgarten, weil ich es jetzt erst erinnere, eine Zuckerwattemaschine ist, in der alles Dada fluffig wird und den Zahnschmelz der Knirscherschienenträger auflöst. Die Kunst ist ein Raubtier, das den Karnivoren – und was anderes wären die bundesrepublikanischen Deutschen als eben das – das wörtliche Raubkunsthandwerk legt, unbuchstäblich. Buchstaben schwirrten trotzdem in der Luft, denn jedes Raubtier hat seine Jagdlaute und uns galt es an diesem Abend Rund ist schön vom Zwang des Sinns zu befreien im Ausdruck.
II. Freundliche Sichtachsen
Ausdrücklich befreit galten auch alle weiteren Bonnaktivitäten der Freundschaft. Verspielt verspielt sich kein Spiel, ganz ernsthaft. Diesen Erkenntnisgewinn hatte die Neue Walisische Bank den Abend im Museumsgarten unter Freunden eingespielt. Es hatte sich noch so einiges ... (Kalauerlücke bitte füllen, damit wir uns die Pässe und Reisevisa auch mit dem Leser ...), das meiste aber der Gedankenachse dieser Tirade, an der ich gerade schreibe und an der Sie gerade lesen, aber zu unabwegig, um angespielt zu werden. Nicht immer will man Tore schießen, wir stellen uns die Jagd anders vor.
Und so schlendert es sich buchstäblich – also Buchstabe für Buchstabe – von den vergeblichen Bemühungen der Geschichtsgärtner nachtäglich zu den Siegen geschichtlicher Gärtner: dem Bonner Botanischen Garten. Heute unterhalten von der Universität Bonn, die selbst einen gebührten Namen zu pflegen hat, zählt er laut Wikipedia zu den „ältesten dokumentierten und traditionsreichsten Botanischen Gärten Deutschlands“. Erschreckend nahe der Sprachgebrauch ihres Mottos dem unsrigen: Erforschen, Erhalten, Erklären, Erleben. Wir horchen zitternd in uns hinein, längst aus dem ich gefallen: Ist die klimaxische Aprefixeration des botanischen Mottos bloßes Stilmittel oder Sprachernst, sprich das Erhalten meint eine Haltung? Eine Haltung wie die unsere, die den Präfixen Glaube schenkt, aber tätig gelebt werden muss, um überhaupt zu sein, also: erlebt, erhalten. Vielleicht ist unser tiefer Glaube an die sinnentleerende Haltung, die das Präfix seinem Wort eröffnet, gerade das Problem, das wir in dem Motto der universitären Unterhaltung zu vernehmen glauben? Wir sollten uns also vielleicht von unserem Glauben lossagen? Ist die NWK eine Universität, uns die Kunst ein Gartenlabor, wie der Universität die Botanik?
Die Universität Bonn, die am Rhein gelegen, zählt auf ungefähr zwölf Hektar ebenso ungefähre 11.000 Pflanzenarten. Wieviel Kunstarten wollen wir zählen, wenn uns das zählen bis drei schon überfordert, es sei denn wir spielen Verstecken. Die Kunst versteckt sich zwar nie, nur auffindbar ist sie oft nur dann, wenn man sich versteckt, also im Spielen. Ist der Takt der Musik ein Zählen – oder ist das Anzählen des Taktes nur ein Einschieben von Zahlen, damit die auch mal zum Tanzen kommen, wo sie sonst nur ein Leben in Reih und Glied absitzen? Klären lässt sich diese Frage nur als Zwischenstand der Dinge, wer das erklärt wissen will, begebe sich bitte zum Botanischen Garten der Universität Bonn, die vom Friedrich Wilhelm, dem III, aka dem Abgezählten.
Wir, darunter neben zwei alten Berliner Freunden in Bonn auch ich, ließen daher den Botanischen Garten links liegen, wirklich links, denn von rechts näherten wir uns ihm an, und rechts bogen wir ein in die Poppeldorfer Allee, der Prachtstraße Bonns, mit der wir, kaum waren wir auf ihr, den Botanischen Garten hinter uns ließen. War ich am Vorabend noch an der Prachtmeile des bundesrepublikanischen Bonn befreundet worden, fand ich mich nun in schmückender Freundesausstattung in der kurfürstlichen Repräsentationsarchitektur, die im übrigen seit Ende des Zweiten Weltkrieges von der Universität erliehen. Die Allee ist nicht nur fürstlich dekorativ, sondern geradezu herrschaftlich arrangiert, denn: sie befolgt einer Sichtachse vom Poppelsdorfer Schloss, das sich irgendwo im Botanischen Garten befindet zum Kurfürstlichen Schloss, wo heute die Universität haust. Die Universität bildet also aus, und zwar ein Universum der Sichtbarkeit der Welt: Erforschen, Erhalten, Erklären, Erleben – Erblicken. Kein Wissen kann sich hier noch verstecken, einzig Camouflage als bereits Erblicktes, Erforschtes oder Erklärtem scheint eine mögliche Taktik des Überlebens zu sein. Das gilt natürlich nur, wenn gilt: Wenn Blicke töten könnten. Können sie natürlich, vor allem wenn die Blicke nicht genau hinschauen. Doch über solche Taugenichtse lesen Sie erst später, auch wenn ich darüber schon vorher geschrieben habe. Was ich eigentlich hatte sagen wollen, um den Anschluss nicht zu verlieren, ist: Die Sichtachse zwischen Poppelsdorfer und Kurfürstlichem Schloss, die sich als Poppelsdorfer Allee abwandern lässt, sollte eigentlich ein Kanal sein, sie also nur abschwimmen oder abbooten lassen. Doch der Wassermangel – der ja bis heute für Bonn gilt – ließ es nicht zu. Nun müssen dort die Bonner flanieren, im besten Fall bummeln, gar fluxurieren. Die Bonner sind gewissermaßen Wasser, ihr Spaziergang die Strömung des Kanals. Ob sich manch ein Bonner zu den Meerjungfrauen, andere zu den Wassermännern zählt? Denn zählen scheint in Bonn ja durchaus eine Beschäftigung zu sein. Mich quält aber mehr, wer wir an jenem Nachmittag gewesen sein mögen oder mochten. Fluxuriert fühlten wir uns ja schon, immerhin waren Unmengen an Bonbons verteilt worden am Abend zuvor, doch der Gedanke an mythische Wesen und urgewaltige Naturkraftprotze scheint rückblickend unseren Zustand unbeschreiblich, dann schon eher eine Kanalratte. Den anderen Bonnern gleich, da wir alle doch potentielle Krankheitsüberträger sind zurzeit.
Sichtachsen sind etwas, dass der Geschichte entgegenkommt, in der wir uns ja über faUSt an diesem Wochenende irgendwie aufhielten. Das Haus der Geschichte und ihr Museumsgarten in Bonn machen Glauben, es gäbe eine Sichtachse auf deutsche Geschichte seit 1945, denn die Bonner Sicht sieht vor allem die bundesrepublikanische Achse.
Was sollte die Deutsch-Walisische Freundschaft an so einem Ort? Wie konnten wir uns in diesen Panoptiken der Geschichtsschreibung in Deckung bringen mit, gegen, neben das Erlebte, das größtenteils ein Erschriebenes ist. Hilft es also sich der Schrift zuzuwenden?
Das liegt so nahe wie das B beim A. Daher also B vielleicht als Sichtachse zwischen Bonn und Bangor? Das nur im Rückgrat gerade B, sonst vorne schön rund. Und mit diesem schönen runden Vorne ist auch eine Schriftachse aufgeschlagen zum Vorabend, der dem verdadaten Publikum den runden Zementmischer als schöne Schwangerschaft einer unerhörten Kunst anschlug. Dieses B, das dem vorabendlich gefeierten D wesenverwandt, sein Vorne braucht das gerade Rückgrat eigentlich nur, um menschlich zu werden, denn so sind beide Wirbeltiere, beide – B wie Mensch – haben sich für den aufrechten Gang entschieden, um so den Blick frei zu haben, auf das was war, vor ihnen steht und noch auf sie zukommt: Sichtachsen also nur ein Gedanke des aufrechten Ganges. Dabei ist das Rückgrat freilich geschwungen, also der Sichtachse nicht homomorph. Beim B freilich schon.
Die Sichtachse der Deutsch-Walisischen Freundschaft freilich ist schwungvoll gebogen wie das Rückgrat, vielleicht noch schwungvoller und gebogener, denn die freundschaftlichen Blicke erlauben auch das Abweichende, lassen auch das gelten, was sich in den weichen Ecken des vorderen B verbergen will, einkuschelt, sich uneinsichtigen Raum gibt. Freundschaft ist schön rund und doch zugleich Sichtachse, denn in der Verzerrung liegt das Verstehen bestens aufgehoben, um meistens gründen sich Freundschaften auf den Umwegen des Lebens, fern der Sichtachse. Der totale Blick der Sichtachse verstellt sich selbst das freundschaftliche Spiel mit dem anderen, der sich nicht in die Karten blicken lässt, weil er sie noch nicht gezogen hat. Rund ist Trumpf, Freunde spielen nicht nur Poker, das die Gerade honoriert.
Doch wir, ohnehin von Foucaultlektüren dispositiviert, wollen nicht vorschnell ein Urteil über die Sichtachsen fällen, denn die meisten sind von Bäumen und Büschen gesäumt. Sie ahnen es bereits: Bäume und Büsche erlauben auch außerhalb ihrer Schriftform ein Verstecken. Dem faulen Blick der Sichtachse entgeht so vielleicht das ein oder andere Geheimnis der sich vermeintlich total transparent und nackt darbietenden Landschaft. Faul aber sollte der freundschaftliche Blick niemals sein, sondern stets den anderen als das Geheimnis bemerken, das man auch sich selbst zugesteht. Wenn zwei Geheimnisse sich anblicken, ist Erkenntnis möglich, die Selbsterkenntnis als Geheimnis gar schon gegeben. Die so sich ereignende Sichtachse zwischen Freunden ist eine glückliche. Sie findet ihre Bilder nicht in dem verkitschten Blick der Liebenden im Film, in dem das Geheimnis längst verraten ist. Dort wird dem gierigen Voyeur sein Begehren dank der Abblende erhalten – der ewige Cliffhanger der Kulturindustrie die unser Begehren nicht zu stillen gedenkt. Die Sichtachse der Deutsch-Walisischen Freundschaft hingegen ist nicht ansichtig, weil man selbst in ihr steht. Wer hätte das gedacht als wir da auf der Sichtachse zum Rheine uns verbummeln wollten, das sich daraus eine krumme Verifikation ergeben könnte. Kapitulation also Resultat von Transformation. Ergeben, wenn auf den Körper bezogen, hingegen Widerstand gegen Transformation. Wer hier jetzt noch folgen kann, dem sei gratuliert. Ich kann es nur, weil ich es selbst erleben musste – und es jetzt für mich Sinn macht. Denn wenn einem speiübel ist – und das war es mir erst letztens, ein Letztens das dem Text hier aber ein Später ist –, ist das ein Zeichen, dass sich da das Leben gegen das Werden zu wehren droht. Antifluxus.
Berlin, Muskauer Straße
Schwertkämpferin im sächsischen Berlin
Wer hätte das gedacht, wir glaubten unser walisisches Herz alleine unter Berlinern und eines Abends, die blaue Stunde fand bereits in die schwarze Umarmung der Nacht, erschien uns zwischen Baugerüsten, die eine Kreuzberger Blockbebauung einklammerten, erschein uns, die wir uns ebenfalls im Zwischenbruch befanden, eine Schwertkämpferin. Auch sie eingerüstet wie der Block, die schwarzen Haare fast so kurz wie die Kreuzritterin Jeanne d`Arc, eingefangen von uns zwischen den Wirklichkeiten, die uns mit ihrer Erscheinung dämmerten.
Sie selbst stellte sich uns wenig originell als Mutta Organa vor, eine Jeanne d`Arc im Feldzug gegen Gentrifizierung, von denen die Baugerüste zeugten, und gegen die symbolisch anzukämpfen sei. Zu führen, so Mutta Organa, die sich mehr in Worten denn in Fleisch manifestieren wollte, sei gegen das System – den Baugerüste sind in Deutschland systematisch zusammengefügter Drumherumbau – ein Schwert nicht Pflugscharen. Das ihre sei aber so schwer wie ein Schwert aus Pflugscharen und daher kaum zu führen für eine Jeanne d`Organa. So seien eben die Strukturen, führte unsere Schwertkämpferin ihre Worte weiter und zum Schluss, also die Strukturen, unter denen die Gentrifizierung sich flächendeckend verbreite, kaum zu zerstören. Die Symbolik also konsequent verkörpert und wortbildlich ausgeführt, glaubten wir die Schwertkämpferin als Materialisierung eines Wunschdenkens verstehen zu müssen. Nur wessen Wunschdenken? Das der Gentrifizierer, deren Geschäft von dieser futile gesture ästhetischen Protestes indirekt Mehrwert wird abschaufeln können, oder das der Gentrifizierergegner, die von der Symbolkraft solcher Mutta Organas Kapital und somit Siege davontragen zu können. Sieger des Herzens gewissermaßen, denn auch uns wärmte das nackte kalte Eisen kurz das Gemüt. Wie schön kann Widerstand sein, Widerstand ist immer schön – dachten wir, bevor die Schwere des Wertes unser Herz in das Schwarz der Nacht zog, die nun nicht nur die Stunde, sondern auch uns in seiner melancholischen Umarmung festhielt. Gefangengehalten entglitt uns die Erscheinung in eine Ferne, die Vergangenheit und Zukunft war, denn am nächsten Abend, in einem anders gestimmten Zwielicht fanden wir sie erneut in Aufstellung neben den aufgestellten Systemsymbolen. Rhetorisch gerüstet war sie auch diesmal und so sind wir es auch, auch wenn wir nicht den Widerstand predigen, denn nur Bewegung wollen wir, frei sein als Bewegung, nicht gebunden an das Wider unserer Standpunkte. Deshalb die Schwertkämpferin ein verschwommenes Inversbild unserer Selbst: Ihr ist das Schwert die angemessene Waffe, denn es besiegelt den Widerstand, wie auch das Widerstandene gerüstet ist als stehende Rüstung um einen Häuserblock drumherum. Wir hingegen ziehen immer ohne Rüstung in den Fluxus, unsere Waffe ist die Fahne, die wir bewegt schwenken, leicht wie ein Spielzeugschwert erlaubt die Fahne unser Spielen zu bannen in der Zeit, die so wenig stehen bleibt wie wir, die wir auch am zweiten Abend unser Inversbild fliehen. Im fast Schwarzen getroffen, fliehen wir auch diesmal in die Nacht. Als wir zurückblicken, sind alle Farben vom Mond verschluckt und zu einem elfenbeinern Weiß prismisiert. Wie unsere Kutten, die unser Emblem auf der Bauchhöhe zeigte, während der Entleibung am Steinkreis in Bangor vor wenigen Wochen. Dort und damals trugen auch wir das Schwert, das wir gegen die Strukturen einsetzen wollten, gegen die Institution, die sich bis in die Eingeweide der Kunst ausgeweitet hatte. Wir also auch Organas? Leicht ließ sich das Schwert führen, einem Spielzeug gleich, das dann doch auch nur symbolisch angezogen, nie aber geschwenkt wurde. „A oes Heddwch?“ Gibt es Frieden? „Nac oes!“ Nein. Riefen wir und riefen wir, bereits zur Befreiung der Kunst durch Ausweidung. Dabei ist doch „ja“ unser Bekenntnis, das Nein hingegen uns fremd. Wir werden uns in unserem Inversspiegel der Schwerkämpferin auf einmal fremd, daher vielleicht die Flucht, die wir als Bewegung tarnen?
Wir werfen noch einmal einen Blick zurück zum fremden Inversspiegelbild, das ja auch uns uns zeigt: Eine Erscheinung wie am Abend zuvor, von unserer Kamera, dem dritten Auge kaum zu erfassen, also sei es in der Zwischenwirklichkeit, dem Jein des Surrealismus. Unsere surrealistische Saffaru (spirch: Safari), zu der die Befreiung der Kunst durch Ausweidung ha sich einbefand, war also auch diesmal nur die Suche nach dem letzten Geheimnis: wir selbst. Wir finden uns versetzt, blicken uns nicht an, sondern immer an uns vorbei hier in Berlin, an der Schwertkämpferin.
Und doch ein Akt der Freundschaft, ein Zeichen der Deutsch-Walisischen Freundschaft, denn was ist der Freund nicht auch als ein Inversbild, eine Folie des Schattenrisses von einem Selbst aber so perspektivverschoben, dass es flimmert im Anblicken. Wenn das Auge sich nur selbst zuschauen könnte beim Ansehen des anderen Auges.
Diesem Wunschdenken sind wir übrigens schon einmal nachgegangen, auf Ynys Faelog und unserer Epistemikologie. Auf den Text sei hier jeder verwiesen, der sich nach fokussiertem Blick sehnt. Wir verschwinden in den Unkonturen der Jean d`Arc für heute. Dämmerungszustand. Surrealismus. Dialektik der Aufklärung.
Vortrag:
Im Frühjahr 2018 erhielten alle Mietpartien der Kunst- und Gewerbehöfe Muskauer Straße 24 in Berlin Kreuzberg von der Hausverwaltung Biddex eine Mietkündigung und gleichzeitig das Angebot auf eine Vertragserneuerung bei 300%iger Mietsteigerung. Unmissverständlich ein Akt ökonomischer Vertreibung, gegen Milieuschutz und eine mittlerweile populär gewordene Form kultureller Enteignung. Heiner Müller, dem die Gewerbehöfe nach der Wende Wohnort waren, nannte es schlicht: Klassenkampf:
„Man braucht doch nur an die Mietgesetzgebung in der Bundesrepublik denken – was ist das anderes als Klassenkampf?“
Das sächsische Bad Muskau, das der Straße, die bis heute Schlachtfeld des Mietkampfes ist, ihren Namen lieh, liegt beinahe 200km nordöstlich von Müllers sächsischem Geburtsort Eppendorf. Sächsisch auch die umliegenden Straßennamen, so der Lausitzer Platz oder der Görlitzer Park. Auch die Pücklerstraße zählt dazu, denn der Muskauer Park, der Bad Muskau grün umarmt, war von dem Fürsten Pückler-Muskau angelegt worden. Eben jenem Fürsten, dem wir das gleichnamige Eis zu verdanken haben, das sich leichter zu Munde führen lässt, als ein Langschwert in den Kampf. Doch die Leichtigkeit des Eisgenusses, das ist so eine Sache, bei der das Schwert wirklich nahe liegt. Denn sie sind Ausdruck und Triebfeder jener Gentrifizierung, die der sozialen Durchmischung das Schwert in den Nacken setzt. Denn dem Ruf des Eis von Tanne B, Vanille und Marille, Kokomo, Aldemir Eis, California Pops, Eis Lanzano oder Duo (Sizilanisches Gelato) folgen nicht unbedingt alle, sondern zumeist eine besonders wohlhabende und gutausgebildete Klientel. Die wiederum würde ungerne zum Original ziehen, in die Lausitz. Bad Muskau, berühmt für Moorbäder und Kneippkuren – also die Kälte in den Beinen, statt am Stil – hat knapp 4000 Einwohner.
Heiner Müller gab einmal die Anweisung, man solle seine Texte auf sächsisch vorlesen, im Falle meine verstände sie nicht. Wenn man sie dann immer noch nicht verstehe, handelten sie vermutlich von Sex.
Klug wird man aus dem einen, aus dem anderen nicht, daher gehören sie zusammen und bilden einen, nicht zwei Texte. Dabei gilt es kräftig zu rühren, sonst bilden sich Wortkristalle aus zu hohem Buchstabenanteil. Hätten wir die besten Zutaten verwendet, also nur Heiner Müller, wäre das freilich nicht passiert. Doch das konnten wir uns nicht leisten. Wir zahlen nämlich gerade doppelte Miete.
Berlin, Dieter Roth - Wittgensteins Neffe
Ein Text für Freunde, für DWF und NWK AO
Säkularisiert und exkrementiert schauen wir heute in die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, in der wir den Fluxus verloren haben. Wo ist er tätig aufzufinden? Den tätig sind wir ja, denn nur im Machen liegt der Pfeffer ausgegraben. Pfeffer wirkt treibend, und traibt den Gedärmen die Religion aus. Austreiben wollen auch wir bald, Ghostbusters werden. Doch dazu woanders und wannanders mehr.
Denn es zieht uns zurück, wo ein jedes Ziehen schmerzhaft ist – in der Innenwelt unseres Körpers, dort wo er seine Späße mit uns austreibt, die wir ihm eingebrockt haben: die Bowels, die Eingeweide, die Gedärme. Georg Macunius, Fürsprecher, Sprachrohr und Mundharmonica des Fluxus, verortete in den 1960er Jahren dort diesen oder diesen dort. Das haben wir erst kürzlich gelernt, weil uns eine der drei heiligen Königinnen der Berliner blauen Stunde, ein Gastgeschenk überreichte. Und nur wenige Wochen vorher hatten wir, im Namen der NWK, dem Surrealismus noch die Gedärme aus dem poetischen Körper gerissen, weil wir sie von den Institutionen zerfressen – und daher zur avantgardistischen Kunst – nicht mehr fähig glaubten. Denn noch bevor uns Georg Macunius Zeichnung (LINK) unter die Augen gekommen war, hatten unsere Geweide eingesehen, was Körper und Kopf zum Fluxus treibt.
Wir wollen keine Genies sein, daher die Erspäung der Zeichnung kein Ziehen im Herzen, sondern ein,w as sage ich, siebzehn, freudige Sprünge desselben. Denn ohne es zu wissen hatten wir Kunst gemacht, hatten wir Fluxus gebraucht. Und Kunst ist nur dann nachhaltig, wenn man sie gebraucht – anders wäre sie ja verbraucht, nicht wahr (siehe dazu unser Substanz-Manifest). Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Fluxus ist also unser Eingedärmtes, das wir auch als Ausgedärmtes bezeichnen können, denn der Darm dient doch der* Verinnerlichung der*Außenwelt zum Zwecke der*Veräußerlichung der*Innenwelt. (Anmerkung*: Sehr viel der aber auch nur deshalb, weil es in diesem Satz dem die gehört.)
Aus Gold und Silber Scheiße machen, hatten wir außerdem mehrere Wochen vorher als Leidenschaft der NWK erarbeitet, die Dividende des moneymentalen Happenings (LINK) lassen wir uns jetzt auszahlen, und legen es hier an, in diesem Text, der die Grenzen der Kunst als Grenzen unserer Welt präfixierend entgrenzt. Man könnte Wittengstein also recht geben, nur war seine Grundannahme falsch, nämlich dass da Grenzen beständen. Diter oder Dieter Roth oder Rot hatte sinngemäß einmal notiert, dass Wittgenstein ein Asket und Dieter Rot kein Philosoph sei. Denn während „das denken des philosophen [...] im kreis fliessen“ wolle, fließe das Denken „des rauchenden und trinkenden und Scheisse fressenden Rot“ „um die in seine haut eingegangenen Dinge herum“. Rot oder Roth also wie unsere Eingeweide, Rots oder Roths Denken also wie der Darmsaft: Der zersetzt die Außenwelt zur Innenwelt, und was dabei herauskommt: Scheißkunst. Dieter Roth, aka Diter Rot, treibts wie unser moneymentaler Mistwurm und macht aus Scheiße Gold oder Silber. Das veredelt auch Wittgenstein, ohne den das Schmuckstück ja wohl nicht Knospen getrieben hätte (Scheißkunst der NWK). Mistwürmer sind hauptsächlich Darm mit Gehirn. Und Zwitterwesen, die – anders als der gewöhnliche Regenwurm – bei Störung nicht flüchten. Denn wer lässt sich schon aus der Ruhe vertreiben, wenn er dem Fluxus frönt? Störung ist der Pfeffer und so wäre man vielleicht gar glücklich verwünscht zu werden?
Sich etwas verwünschen wollen wir als Hausaufgabe mit auf den Weg geben, denn das Wünschen haben wir ja längst verlernt.
Wurmfortsatz:
Es ist uns außerdem an dieser Stelle ein Hinweis wert, noch einmal zu betonen, dass bei unserem Gerede, kein Tier zu Schaden kommt, es sei denn, es hörte genau hin. Denn auch wenn unsere Denkbahnen im Darm denen Dieter Roths im Kopfe gleichen, sind es doch die von Vegetariern und Nichtrauchern. Wir lieben aber das Alliacarnovieren, Allianikotinieren und Alliaethanoren, geben hingegen zu bedenken, dass selbst die Drachen – die von unseren unideologischen Bannern nicht mehr wegzufliegen sind – zu Vegetariern geworden sind. In ihren rauchenden Schlünden wird also lediglich Plankton and Family gegrillt. Sowas geht in den richtigen Eingeweiden ganz schön ab. Von daher sind wir glücklich über den Nichtphilosophen Roth, aber auch glücklich über den Tractor logico-philosophicus Wittgenstein. Ihm zufolge sei die Wahrheit eine Sache von logischen Sätzen – Philologie daher eigentlich die Lieb zu logischen Sätzen. Mit Dieter Roth aber behaupten unsere verifizierenden und ver-ifizierenden Passagen, dass die Wahrheit gerade nicht in der Logik, liegt, sondern im Sondermüll der Sprache. Auf den kann man nur blicken, wenn man hinter sich schaut. Zwar sollte ihn auch die Nase verraten können, doch nur wenn der Wind von hinten weht. So bleibt der Nacken, der dem Sondermüll angesichted bleibt, weiterhin das Organ, das die Kunst aufspürt. Und daraus folgt, logischerweise, dass Wahrheit nur als Kunst zu finden ist.
Chemnitz I – Karlo Kantus
Man nähert sich dem Koloss von Chemnitz (siehe Foto) von seiner rechten Seite. Das sei hier nun bitte nicht im übertragenen Sinne, also ideologisch zu verstehen, sondern ganz pragmatisch, also: von der Seite rechter Hand. Das Pragmatische liegt, so denkt ein jeder nun vielleicht, doch bei Mary offen auf besagter Hand, wenn nicht gar auf beiden, hat er doch stets alles Denken auf die Füße stellen wollen. Doch einem Koloss in Chemnitz wird heutzutage allerhand unterstellt. Unzweideutig also müssen wir, die wir ja sonst das dreideutige pflegen, es ausnahmsweise mal ausplaudern. Das sind nicht unnötige Worte hier, der rechte Exkurs im Grunde ein rechter Exkurs. Nicht nur für sie als Leser, sondern nun auch für mich als Textläufer*in, passiere ich doch gerade den Moment, den ich begann hier einzufangen und der mir im Umweg noch einmal entschlüpfte. Ich weiß, was sie gleich wissen werden. Nämlich, dass die Überraschung zu erwarten war. Jene Überraschung, die uns überfiel, als wir in des kolossalen Marxens Hinterköpfchen ein kantiges Profil erblickten. Vieles hätten wir zu erblicken erwartet, doch ausgerechnet Kant als Untermieter des Linkshegelianers? Doch so ist‘s uns einsichtig: Hätten wir uns dem Kopfe Karls dem Marx sein Koloss von links genähert, so wäre uns der Kant nicht in die Augen geschuppt.
Chemnitz II - Weltreise
Wir haben eine Weltreise gemacht. So zumindest fühlt es sich an, so viel zumindest ließe sich berichten, so zumindest gedenken wir aufzuspielen im Folgenden. Seien Sie daher auf alles gefasst, vor allem darauf, dass wir unsere Versprechen nicht einhalten. Die Freud’schen freilich schon. Dabei bietet unsere bereiste Welt soviel Grünfläche, dass man sich stets eingeladen fühlt, eben nicht einzuhalten, sondern der Natur – und damit eben auch Freud – freien Lauf zu lassen.
Frei gelaufen sind wir viel, wenn auch an der Leine, aber wenn man nicht drängt, weiß man von der Leine auch erst, wenn man über die Freiheit schreiben will. Da wären wir also schon am Ende, bevor wir überhaupt angefangen hätten. Dabei sind wir ja bereits am Anfang, der sich nämlich ebensowenig verlief, wie diese einleitenden Worte, auch wenn andere es so bezeichnet hätten. Denn kaum war man in Chemnitzer Endbahnhof eingefahren, also festgefahren, wandte man sich der entgegengesetzten Richtung zu als der gemeinten. Verkörperte Ironie. Unser Ausflug begann also am Ende mit einem Vorstoß in die Chemnitzer Innenstadt, wo uns beherzter Gastgeber doch eigentlich in der von uns aus gesehen Nachhut erwartete. Also so wie hier eben, daher alles noch Realismus, den ich in seiner sozialistischen Ausprägung, also Fassadenreliefs dank betextem Vorstoß, sofort hatte bewundern dürfen. Geschichtsträchtiger Einstieg, der Programm werden sollte und quasi schon monadisch darauf angelegt worden war, in den folgenden Tagen bewandert zu werden. Doch von Leibniz war erst mal keine Rede, als wir dann doch endlich den Gastgeber fanden. Der holte uns in Nähe des Endbahnhofs vom Abstellgleis, als welches der Vorstoß auch gedacht werden könnte – denn wo sonst glaubt sich der Sozialismus heute –, und gemeinsam wichen wir der Deutschen Bahn subversiv aus: ein kurzer Schlenker Linkerhand befanden wir uns in einer Unterführung wieder, die so lila ausgeleuchtet war, dass es mir die Erinnerung an die alte Spinnerei beinahe überblendete. Die nämlich durchaus architektonisch toll. Irre natürlich das Ausgeleuchtete, das allem Realismus fremd auch die Jugend anzuziehen schien, die sonst in Chemnitz so rar wie Visionen in Remscheid. Weil das Subversive Chemnitz damit bereits ausgeleuchtet, wären erst wieder Worte zu gewinnen, um sie darüber wieder verlieren zu können. Das hat ja was Gutes an und für sich und für Sie.
Entkommen dem tiefen Farbton führt uns der Anstieg zu einem weiteren Unort: Die alte Gießerei wird dank guter Kapitalisten empowert und verschickte uns gleich in die algerische Wüste (siehe Foto). Der Aufstieg hatte sich gelohnt und der Lohn ist Anlass für die Behauptung, wir hätten eine Weltreise gemacht. Das freilich war bei Aufbruch in Berlin gar nicht die Absicht gewesen, vielmehr hatte die Sehnsucht nach Nicht-Welt und Ruhe auf die Schienen getrieben. Freiheit von statt Freiheit zu. Chemnitz selbst wollte, wie sich während unseres Aufenthaltes herausstellte im Übrigen auch nicht Welt, sondern vor allem Europa sein. Das schon einmal ein Schritt über sich selbst hinaus, der wie man nun, da dies sich in der warmen Berliner Stube tippt, gelang und zwar gar nicht so lang nach unserem Besuch.
Fortsetzung folgt als Referenzfläche
Scheiden in Rem ... coming soon
REM ist träumen. Remscheid ist Aufwachen ohne Traum.
Wir sind zurück in Annwn. Also woanders.
Verifiktion – Weit weg vom Anfang, der seinen Grund in der Zukunft sah, die aber nicht unsere Gegenwart sein kann. Müssen wir erneut aufbrechen?
Wir haben gemeinsam so viel erlebt und überbieten uns an Erfahrungen noch heute. Die Sprache hinkt mittlerweile hinterher, wir haben sie zu überholen versucht und es ist uns gelungent. Die Vorsilben erscheinen immer öfter nachrangig, ihr Atem sitzt uns zunehmend im Nacken. Doch ihr Rückenwind beschleunigt uns kaum noch, und wir zentrifugieren bereits so rasch, dass wir alles schon wieder unter Kontrolle haben.
Unser Denken findet vermehrt woanders statt und schafft es kaum noch seiner Herkunft zu gedenken, der Ruf ist etabliert und so schreien wir zwar auf vollbetippte Seiten, die gähnen uns aber ins Leere zurück. Wir haben allerhand erzählt und uns kräftig verrechnet, Milchtüten voller Elefantenglück. Zuletzt trafen wir unser Wappentier, zum ersten Mal in dem Land des roten Drachens: Der Igel war so verschreckt, seinen Jüngern ins menschliche Gesicht blicken zu müssen, dass er so erstarrte, dass er nur noch Blick war, Anblick gar – von Dür‘schem Format. Der Igel im Schrecken vor dem Zerrspiegel seines eigenen Witzes verwandelte sich, um zu sich selbst zurückzukehren.
Wir lesen das als Zeichen eines Abschlusses im Kafka’schen Sinne: Verwandlung als Befreiung. Die Verifiktionen und Ver-Ifiktionen wollen weder fliegender Holländer noch Hase noch Igel sein. Bug wollen wir sein und doch eher Glitsch. Glitsch im Format und Bug im Ausmaß – so wären wir Fluxus, dem wir ungläubig und der Sprache weiterhin zweifelnd vertrauend von der Galerie ins Gesicht blicken wollen.
Kommen Sie mit, die Manege ist frei und das Ticket erhalten Sie in Bälde hier.
Oder in der Zwischenzeit uns hier.
Ins Denkfeld gerückt
Geraden sind tendenziell eher recht lang, eine kurze Gerade ist hingegen beinahe unvorstellbar als Gerade, also Gerade sollten schon mehr sein als ein Bindestrich oder Gedankenstrich, wobei freilich (selbstverständlich versteht sich für uns von selbst) unser Geraderücken als Gedankenstrichbindung - (schreib Strich) Bindungsstrichgedankendenken angedacht war.
Das als Fazit einer kurzen Nacht.
nachkommene nachsicht
Jajajajajaja
Dreimal Ja, aber auch nur weil’s drinnen steht. Titel ich in meinem Mini-Buch, das ich soeben faltete, wie ich sie jede Woche falte – aus alten DinA4 Blättern von der Arbeit, alten Flyern, und einstmals bedeutungsvoll ausgedruckten Fotos. Das war in einer Euphoriephase, wo uns der Fluxus an jeder Ecke entgegenkam. Dreimal Ja aus Dortmund. Natürlich im Untergrund. Da noch wenig zu berichten ist, die Woche jung, kam es zur Faltung nur for killing time. Und wie gewöhnlich bei Fluxus (uiuiuiuiuiuiui), zack, vertrackte sich das Schreibende mit dem Gelesenen, nicht dem Gesehenen. Diachronische Sinnstiftung. Da habe ich also in Dortmund, ich denke 2023, was festgehalten, das mir heute im späten Jahr 2024 mein Gestern im späten aber eben noch nicht ganz so späten 2024 mit dem Heute und alles, was da dranhängt und sich sedimentiert hat und so rumflirrt wie Feinstaubpartikel, verdialogisiert, verdialektisiert eigentlich. Denn – auch das steht da nun im Untertitel – dem dreifachen Ja steht das dreimalige Nein zur Seite, gegenüber, unter. Adornos bestimmte Negation vs. Die positive soziale Transformation eines Joseph Beuys, eines Utopias Bach. Grant Kesten führte mir das ja in den Verstand, mir meinem Verstand zu. Gehadert, Adorno noch folgen zu können, hatte ich das Kuriositätenkabinett, das sich im Deutschen falsch verstehen lässt, noch seine Realität abgesprochen, letzten Samstag. Auf Saunder Lewis vs Andy Warhol traf ich wohl letzte Woche Donnerstag, wie vom Blitz getroffen, dass unser Beuys vs Boyce ein Echo aus Wales und nicht von der Dokumenta war, nun Beuys vs Adorno. Jajaja, Nenene. Vielleicht war es damals schon so gemeint. Ich meine es jedenfalls auf jeden Fall so. Sie dürfen die Bezüge frei wählen.
Heut mach ich mir kein Frühstück, heut mach ich Spätschicht, spätes Schichten, frühes Falten. Das Bett mache ich im Übrigen nur, damit die Katze auf der richtigen Bettdeckenseite schlummert.
Punpunpunpunpunpun
The pun: "a circular process of reasoning that thriftly returns to the same place while releasing fresh insights".
Pun ... pnpun ... pnpnpun ... unp
The pun: "a circular process of reasoning that thriftly returns to the same place while releasing fresh insights".
Wie ein Gongschlag. Der Gong vibriert zurück zu seinem Urzustand, aber während der Rückkehr, ja - um überhaupt dorthin zurückzukehren - entlädt er seine Wucht (oder bei sachtem Anschlag leichte Klangwellen) von tragenden - forttragenden - Klangwellen in den Raum (bzw. sie ermessen erst den Raum, den der Gongkörper vor dem Anschlag noch nicht wirklich )sondern nur potentiell/virtuell) hatte.
Ein glücklicher Gongschlag setzt Klangwellen frei, die auf Widerstand stoßen: so wird aus dem Gong ein Echolot. Der Gong ist dann nicht mehr nur an und für sich, autonomer Klangkörper, sondern erfährt sich selbst als Gong, als Gong für sich und die anderen, an denen er sich zurückwirft zu sich selbst als anderen - sprich, der Gong wird dank Widerstand selbstreflexiv, eine Selbstreflexivität, die zugleich Körper und Raum hat. Reflexion der vom Widerständigen zurückgeworfenen Klangwellen.
Wie ein Echolot. Das Echolot Signatur der Kunst der Verifiktion, schon von Anfang an dabei. Maesgeirchen. Fahrende Poesie. Die Wirklichkeit traf die poetische Unwirklichkeit, und ermöglichte das Getroffene sich als poetisch autonom zu erfahren. Adorno. Verifiktion damit durch Adorno verifiziert. Adorno damit von Verifiktion verifiziert. Ansonsten aber zugleich sehr viel Widerstand gegen Adorno. Und vielleicht genau deshalb ...
Verb raten
(dreimal varriieren und dann haben Sie's schon mit dem Titel)
Abbau- oder Aufbauorganisation – Pre- or Post-art Formation. Wer sind wir uns wer seid ihr und gibt es im wir überhaupt noch ein ihr? Und sind wir oder waren wir? Seid ihr oder werdet ihr sein? Im Wir meine ich das Ihr, im Ihr meine ich das Wir. Ich führe Selbstgespräche mit der Sprache, die nie antwortet, sondern fragt. Vorher, Nachher, Mittendrin. Wir habens noch nichtmal zu Ende gelsen, euren Artikel, in der taz und wollen an genau der Stelle und zu genau diesem Zeitpunkt, Jetzt und Hier, statt später auf ein Dort zu verweisen, uns standpunkten, beanstanden, dass das, was ihr da glaubt verstanden zu haben, zu verstehen und uns damit zu versetzen. Denn natürlich betrifft es uns, wenn ihr da über die Kunst sagt, dass die Elite, die sich spätneoliberalinformiert zu einem “Netzwerks Arte Útil” fördern ließ, ein postartistisches sei, wie auch ohnehin schon 2016 in Warschau die Förderer eben jenes den Förderern ihrem Elitehabitus so nützlichen Netzwerkes bereits 2016 in Warschau über ein gemeinsames postartistisches Zeitalter diskutierten: “Man fragt sich aber, ob die Idee einer nützlichen Kunst eigentlich bis zu Ende gedacht worden ist. Und ob es nicht einen Missbrauch darstellen kann, wenn sie als Werkzeug für eine mutmaßlich bessere Welt eingesetzt werden soll. Der Bereich der Kunst sollte letztlich ein autonomer Raum bleiben, in dem Themen aller Art verhandelt werden können. Nur so kann die Kunst einigermaßen frei sein.” Letzlich ist da einigermaßen aller Art an Themen drin verhandelt in diesem Satz, und wir können ja nichts dafür, das wir sowas auch so geschrieben hätten, vielleicht mit ein wenig mehr an aller Art von immerhin, ohnehin, dahin und fürhin. Ihr fragt euch aber, ob Kunst nun ein Bereich oder Raum ist, Themen verhandelt oder thematisiert werden und ob es sowas wir “ein bisschen Freiheit” gibt. Detailfragen, die ich hier gar nicht hatte inbringen wollen, als ich als wir und ihr ankam, ansetzen hatte wollen, um das Wort “postartistisch”, nun, zu thematisieren, wobei dann auch der weitere Wortbereich, zum Beispiel das “Zeitalter” uns zur Verhandlung stehen sollte. Als sei auf Grund des Präfixes “post” zwingend ein temporales Wortfeld zu besetzen. Gebe ich eine Nachricht auf, im Medium des Briefes, fragt die Post mich ja eher nach der Adresse, das Zeitalter der Überlieferung oder Aushändigung liegt hingegen kau mehr in unserer Hand. Asynchron wird es sein, soviel ist sicher, wie stark verzögert – und ob die Nachricht nicht eventuell erst in der Verzögerung zur Nachricht wird – das ist auch bei großzügigen Zuschlägen nur mit Großzügigkeit gegenüber der Post als Logistiksystem tatsächlich genauer zu determinieren. Die Post ist nachträglich. Punkt. Wäre die Sprache einigermaßen frei, so wäre vielleicht dem Präfix post eher was räumliches zuzumuten gewesen? Tiefe, Breite, Höhe – mehrdimensional nicht bloß einfach die eine Vierte.
Der fussballerische Raumgewinn unserer wörtlichen Aufstellung führt zur asynchronen Thematisierung der NWK-AO. Das NW soll euch hier gar nicht unbedingt interessieren, das K steht für Kunst, doch woführ steht AO. Für Aufbau- oder für Abbauorganisation? Das hängt vom Zeitalter der NWK ab und ist irrellevant, relevant ist aber der linguistische Raum, in dem die NWK-Ao (tippen wir kleinlaut) agiert (wir thematisieren also nicht), der hier und da, nun und einst (da und einst können sowohl Zukunft als auch Vergangenheit anweisen) sein mag, möge, ist mal einigermaßen English, mal einigermaßen Cymraeg. Das NWK-AO bedankt sich bei Alexander Sedlmaiers epostalische Nachricht, die auf die agitorischen Prägänger*innen verwies, den KPD-AOs. Nachricht als Wirkzeug, Wirkzeug als Werkzeug zu Wirkzeug als Werkzeug – lasst das einmal auf euch wirken, lassen wir das einmal auf uns wirken. Nicht eigenwerbung, aber Autonomie als ÖPNV.
Post poetische Verdelivery und um einige Denkzeitalter reicher, vorwärts zurück zur AO, der KPD-AO. Diese bezeichnete das englischsprachige Wikipedia as pre-party formation. Womit wir uns im falschen Recht glaubten, die NWK-AO als pre-art formation über den linguistischen Kanal übersetzen zu können. Offenbar sehkrank gegenüber den Ufern des Medeamaterials, das uns erwarten sollte, denn wie hatten wir nach allerlei dialektischem Deutungshandeln dialogischer Handlungsdeutungen (= conceptual theatre) uns sonst als Abbauorganisation zur post-artistischen formation versprechen können, doch zum Glück noch nicht ihr verschrieben?
Jetzt habt ihr uns in dem Artikel eine Theorie als Sehhilfe vorgesetzt bzw. zum Ankauf angepreist, deren Aussicht uns schreien macht vor Entdimensionalisierung und Verzerrung dessen, was wir dachten uns bezeichnet zu haben als das, was wir es sein lassen wollten und einmal zweierleimaßen glaubten sein lassen zu können. Also postartische formation ebenso wenig wie preartistische formation, aber ja doch Aufbau- und Abbauorganisation. Beuys’ Ja und Adornos Nein. Denn die Vorstellung, dass da so etwas wie eine Abschluss von Kunst gäbe, liegt uns so fern wie in unserem künstlerischen Handeln allerhand Themen zu verhandeln und damit einigermaßen frei zu sein. Wir handeln und denken längst als Abbauorganisation, denken wie- und woanders, ganz sicher nicht im Zeitalter. Dass das als postartistisches nun gelten soll, ist schon okay, und dass und wie darüber in der taz und bestimmt auch anderswo geschrieben wird, in Warschau diskutiert wurde, ist auch OK. Wir sind hier ja in Cymru, iawn ‘ta?
Verbraten auch hier am 2.11.2024.
Dyfod/Dôd o hyd
So eben (4.11.2024, 14:11) beim ahnenden Umbennnen wiedererfunden.
4, 8, 176520, 3, 2, 1, 5, 6, 451095682,90, 28, 367, 345
Jüngst hielt man uns vor, die Verifiktionen erzählten. Noch jünger sahen wir ein, die Verifiktionen erzählen. Durchaus im klassischen Sinne, aber mit Verlaub muss ich doch sagen bei allem, was schlechtweg recht ist, wäre freilich hinzuzufügen, dass das Erzählen der Verifiktion weniger vom narrativen Linsenzählen (also: Märchen, die die Zuhörenden in die autoritative Gesellschaftsordnung hineinfürchten zielen, als vielmehr von dem, was zählt. Nicht dem, wer zählt. Dem, was zählt, was bedeutend ist, nicht was bedeutet wird, vielleicht, was bedeutet. Denn, was bedeutet, zählt ja meistens auch.
Dabei sind die Verifiktionen wie das Dezimedalsystem ein Werkzeugkasten, bestückt vielleicht durch Autor*innen, doch gewerkelt wird von den Leser*innen.Die Mathematik der Verifiktion.
Zum Üben:
1. Nun übersetzen Sie doch mal dieses Gleichnis in „Malen nach Zahlen“
2. Das blaue Pferd von Franz Marc, der nach langen Tagen längst im Himmel weilt.
3. Worte als Objekte des Denkens, die uns eine Vorstellung von Größe (das Sublime) und Ausmaß (Katastrophen) geben. Die Vorsilben wären dann die …?
Jüngst waren wir jünger, aber noch jünger waren wir älter. Wir erleben Zeit gerichtet, ohne dass sie es tatsächlich sein müsste. Erzählen ist daher Richten von Zeit, sprich berichten. Ist es bedeutendes Berichten, dann spricht so mancher von Nachrichten, während man die wiederum nur als Vorrichtungen einer Wirklichkeit verstehen könnte, die uns eigentlich nichts auszurichten hat. Deshalb wurde das Erzählen, well „erfunden“? Dada wusste das schon vor 100 Jahren, ach was vor mehr als 100 Jahren.
Was erzählt die 100?
1+0+0?
1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1-1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+
1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1+1?
Ja, Nein, Nein?
Jupp, Nö, Ne?
Ia, nac ydw, don?
Dada erzählt, dass es manchmal besser wäre, sich zu verrechnen. Fluxus verliert sich im Schätzen. Beide uns Schatz, die wir in die Verifiktionen importieren. Importance trägt Gewicht, das sich in Zahlen erzählen lässt und mit Autorität (pwys) kommt. Pwys ist daher auch der Druck der Autorität, die sich nur noch für spreadsheets interessiert, nicht für das Erzählen. Ein solcher Sprung allerdings ist nicht-narrativ.
Erzählen ist also etwas, das zählt herzustellen, etwas, das noch nicht zählt durch das Er-Zählen zu etwas zu machen, das zählt. Hat Er-Zählen also 1.1x mit Zahlen nichts zu tun? Er-zähltes ist in Zahlen nicht abzubilden, weil es – auch wenn es durch das Er-zählen als Er-Zähltes zählt – Avant-Zahl ist, es ist Zahlen, Zählen und Zähmen vorgängig. Er-Zählen hinkt aber zugleich dem Sein hinterher, ist es, was es ist, so ist es Er-zähltes, zeigt sich in seiner grammatikalischen Form als Vergangenes. Vergangenes wird fälschlicherweise auch als Perfekt bezeichnet, als sei es vollendet. Er-zählen aber ist als Vorgängiges immer unvollendet, wenn es sich auch nach der Vollendung richtet. Er-zählen also gerichtete Zeit, ausgerichtet zugleich auf Vergangenes das als Er-zählen vorgängiges Präsens wird und als unvollendetes Gerichtensein zugleich nach der Zukunft ausgerichtet ist.
So verstanden, nehmen wir die Zuschreibung, die Verifiktionen seien Erzählung gerne an. Die Verifiktionen habe gerade leicht sich in ahnungsvollen Heideggerklang verloren, meinten damit aber eigentlich Deleuze (und Guattari, vielleicht Guattari sogar mehr als Deleuze), dessen bzw. deren Erwähnung (kommt auch von Ahnung) jüngst noch verwirrt hatte. Wenn aber nun Er-Zählen eine vorgängige Gegenwart wäre, die sich in die Vergangenheit und Zukunft ausrichtet, wie solle sich da noch etwas falten lassen? Nun, wenn die Vergangenheit, zu der sich die vorgängige Gegenwart, die zugleich schon in der Zukunft sich ahnt bzw. nach ihr als der eigenen Erfüllung sehnt, ausrichtet, zugleich 1x vorgängige Gegenwart, die sich zugleich schon in der Zukunft ahnte und nach ihr als der eigenen Erfüllung sehnte, war, vorgängige Gegenwart einer Vergangenheit freilich, die vermutlich selbst einmal vorgängige Gegenwart einer Vergangenheit, die vermutlich gar – wollte man einen perspektivischen Sprung wagen – einst erfüllte Zukunft einer vorgängig zur Gegenwart gemachten Vergangenheit (nämlich dank des Er-Zählens) wäre, ja, dann wäre Zeit – zumindest doch er-zählte Zeit - nur noch als gefaltete vorstellbar. Der Verweis auf Deleuze und Guattari also nicht bloß eine akademische Verrichtung, sondern echte Richtung des Denkens. Eben wie der linguistische Pun in der sprachfernen Kunstpraxis von Marcel Duchamp: Am Ende kommt man zum Ausgang wieder zurück, allerdings hat man auf den erst mal ganz anders blicken können, weil der Pun einen hinauskatapultiert aus der Logik des Ausgangs: Richtung als Verrichtung. Das klingt zwar allzu sehr wie Diter Rot, den wir hier in seiner eingefalteten Schreibweise setzen, führt uns aber wieder an den Anfang dieses Textes und in das Herz der Ver-ifiktion, und der Frage nach dem Er-Zählen. Die linguistische Pun der Verrichtung, zeigt doch, wie das Er-Zählen der Verrichtung des Pun (siehe auch Dada, Fluxus, Schlingensief), dem Verrichten einen anderen Wert gibt, als der intellektuellen Verrichtung. Verrichtung ließe sich dann über Dieter Roth auch ersetzten durch Scheiß-Kunst. Verrichtung ist also nicht gleich Verrichtung. Es kommt auf das Er-Zählen an.
Wir sprechen die Wahrheit nicht aus, weil wir sie bereits er-zählt haben. Und so schließen wir mit der Einsicht, die Verifiktion in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf, wobei 1.erer büffelt, letzterer lese.
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Verkürztes
Jüngst waren wir im Museum. Nicht der Bilder wegen. Tristwch y fenywod waren eingeladen worden, in die städtische Galerie, die als Storiel zugleich suggeriert, Geschichten auszustellen, vielleicht sogar das Erzählen auszustellen – weswegen wir vielleicht diesen Text hier schreiben, bedenkt man, was wir jüngst hineingetragen hatten in die Verifiktionen, nachdem es sich zugetragen, dass man uns das Erzählen unterstellt hatte. Storiel eine belagerte Anekdote in sich selbst, halb belegt, halb verflunkert, je nach Geiriadur.
Die Einladung ist der Ladung wie der Vorladung verwandter als ich selbst von meiner eigenen Familie gedacht hatte, wo die Cousinen die gleiche Person als Oma bezeichnen haben, obwohl sie eigentlich meiner Schwester, Bruder und meinerselbst xy war. Lehnt man nämlich eine Einladung ab, bricht man vielleicht kein geschriebenes, aber wohl doch ein ungeschriebenes Gesetz. Letztens waren wir zudem geladen worden, zu einem Empfang der deutschen Botschaft in die Botschaft der ehemaligen DDR, also der ehemaligen. Heute also gewissermaßen auch ein Museum. Verdächtig, ja zur Vorladung verdächtig, die bürgerliche Kunst an den Wänden des „Deutschen Hauses“, wo vermutlich unfreiwillig doch tatsächlich sich die deutsche Nachkriegskultur ausstellte, indem deutsche Hotdogs zu deutschem Fassbier serviert wurde, deutsche Würste ummantelt, eingebettet, beheimatet, integriert, niedergelegt, begraben, immersed in Laugenstangen. Leider öffnete man die nicht mit Kettensägen, sondern Brotmessern, eingefaltet war man also in den und in die Inneren auswärtiger Kulturarbeit und Selbstversicherung auf verlorenem Posten im ja tatsächlich buchstäblichen Sinne –die alte Botschaft unfroh besetzt, zudem der Anlass „Making the Case for German“.
All das vielleicht eher museumswürdig als Tristwch y fenywod. Die rebellierten einfach mit Anwesenheit inmitten Catrin Williams Belongings. Man cancellte sich gegenseitig farblich hinaus aus der Gallery, aber traf sich dort doch wieder. Denn alle hier sich bespielenden Künstler*innen acknowledgen die Traditionen vor allem der Frauen und lassen sich aber nicht in deren Boxen laden. So schuckelten wir uns schon am Samstag weiter durch aus Museum hindurch, wie die Wühlmaus, nur weniger eifrig, vielleicht wie ein Hans guck zu Boden, der ankommt, auch ohne zu wissen, wo er langläuft. Und so fanden wir uns angesichts der Berliner Kunst- und Kulturkürzungen, museumsunterwunden und geöffnet für Vorschläge. Nun droht Vorschlägen ein ähnliches Verwandtschaftsverhältnis wie den Einladungen, man kann sie ablehnen und annehmen, ein Schlag ins Angesichts (sic![1]) sind sie doch immer. Dort auch zugleich schon Einschlag. Der Tanz der Vorsilben ist immer schon Bedeutungschoreographie, die Verifiktion aber deshalb noch lange kein Morris-Dance, sondern unter der einschlägigen Prämisse (= vorgängiger Verlust = Irrtum) des Erzählens wohl eher Pina Bausch (Prä-Wenders, bitte). Sind wir ehrlich so ist der Vorschlag eigentlich ein Nachschlag, denn wir haben‘s Dicke und weggeschmissen wird bei uns gar nichts, denn lange hatten wir es nicht Dicke. Nachschlag aber nicht als refill in Starbucks, sondern eher museales Nachbild, waren wir doch jüngst vor dem jüngst vor dem jüngst dem totalisierten Kreisverkehr der Stadt Castell Newydd (Lloegr, dim Cymru) entkommen, um Dada’s Mona Lisa zu besuchen. Auraimmune as we are, rhagfarnllyd yn erbyn cariad i bawb y byddwn am byth, sahen wir eine graue Wand, umschlossen von dunkelgrauen Wänden, inmitten denen eine Bank zur ansichtigen Lamoryanz über den Objektfetischismus der Museen – ja – einlud. Entsetzen starrt, sieht aber wenig. Entsetzen sieht erst im Nachbild. Und so glühte die Einsicht sich ins schwarz-weiße Zahlenpapier der Berliner Senatsverwaltung. Warum Museen? Der Schwittersche Merzbau war ein Merzbauen, Prozess-orientiert, denn Erinnerungsarbeit und Einprägungsarbeit, tätige Aneignung Heideggerschen Bauens, Wohnens, Denkens, die mit Schwitters zu begraben und nicht vorstellig gemacht zu werden gehabt hätte sollen müssen. Mußte reimt sich auf Auguste, wie Auguste auf wußte. Sicherlich nehmen wir uns hier allerhand heraus, aber Schwitty ist a sister in kin, führte er die Worte doch ebenso spazieren wie wir. Sinnvoll ist der Merzbau nur für die Erbauer, erbauend nicht über diesen hinaus. Der Merzbau ist kein Kunstwerk, sondern ein score in Stein und Staub. Wie die Verifiktion eigentlich. Das vertippen wir hier jetzt mal festhaltend an dieser fluiden digit-al Situ-action – weil Epiphanischer Moment, den die Verifiktion doch immer sucht, ersehnt, sie herbeiflaniert. Stellen Sie sich jetzt bitte Glückseligkeit vor, bliss, bendigedigrwydd, Freude.
Die Merzbarn aber ist längst verbaut und Signum institutionellen Missverständnisses: Pflege der Kunst und Kultur als Grabpflege. Dem Entschluss der Hatton Gallery, Merzbarn zu präservieren, ging – so behauptet es die Webseite – a lengthy discussion voraus. Diskussion als Avantgarde der Entscheidung. „Lengthy“ is übrigens so bias wie wir, meint eigentlich eine langatmige, ermüdende Diskussion, für prozess-orientierte Kins and Minds fel nous a moi a delight, für managerial minds and so-called „Entscheider*innen“, die Institutionen wie Museen (vor allem die der universitären Art) ausbrüten die reinste Hölle, weil entscheidungshemmend, - aufschiebend – verzögernd – verschleppend – retardierend – verbummelnd – stundend. Jedoch, unumgänglich im managerialen Prozedereprotokoll, sprich Entscheider müssen vor jeder Entscheidung durch die Hölle gehen. Hölle. Hölle. Hölle – das sollte vielleicht stutzig machen.Nun ist aber doch der Manager ebenso wie Manager*in Ermergenzen des protestantischen Spätkapitalismus, die Vorhölle der Entscheidung also wohl dem Phänotyp Manager*in sinnhaft?
Das Museum als Ort der Kunst- und Kulturpflege also eher zweifelhaft, amheuadwy. Vielleicht eher noch gültig als Instrument einer Brauchtumspflege im Sinne einer Zähmung der Kunst, die so zum Werk wird. Wie im Zoo. Dort sehen wir einzig die Tiere, die nicht mehr wild sind, die wilden nämlich bleiben unsichtbar, ebenso wie das Wilde. Die Rede vom Rewilding, wohl Verwilderung, - einer neuer Trend in der Selbstzerfleischung der angelsächsischen Kunstindustrieakademie – ein performativer Widerspruch. Die Verifikationen sind entscheidungsarm, das werden Sie uns liebe Lesewesen, doch spätestens jetzt glauben, nicht wahr? Entscheidungsarm bin allerdings ich, vornehmlich außerhalb der – oder vielleicht wäre sinnvoller: vor den Verifiktionen. Die Verifiktionen gewissermaßen Verarmungen der Entscheidungsarmerei, für die ich mich bezahlen lasse. Verarmung zur Entscheidungsarmut. Impactfrei. Von dort wäre vielleicht noch öfter ein Spaziergang zu Kopfe zu tätigen. Die Wand des Merzbauens ist eigentlich keine Wand, sie wurde nur als solche in der Hatton Gallerie ausgestellt. Sie ist eine Situationistische Karte. Bitte hier weiterdenken.
Der zur Wand verflachte Merzbau erschien reliefzweieinhalbdimensional mühelos als Nachbild auf dem eindimensionalen Politikentscheidungsspreadsheet. Die aus der bürgerlichen Klasse emergierten Sparwölfe koksen sich autonom und damit wurzelvergessen, radikal anti-radikal verabschieden sie die monetäre Pflege der Demokratiekulturpflege, von der sich Deutschland schon einmal verabschiedet hat. Die Finanzpolitikpolitik und die Finanzpolitikpolitikpolitiker rahmen einzig noch die AI der Kalklulationsästhetik und erzwingen von uns Solidarität mit dem Kulturbetrieb ihrer Väter und Urväter, die sie gar nicht mehr ermorden müssen, da sie längst verkapitalisiert worden sind. Die Avantgarden haben kampflos gesiegt, die bürgerliche Klasse abgebaut worden und im eigenen Museum gelandet, das nun auf 26 Grad runtergekühlt wird. Doch wird sind Afongad und träumen tiefer – der Abbau ist nun radikal moderat oder radikal radikal zu denken.
Nachtrag:
1 Merz, 2 Merz, 3 Merz. Scherz.
Er-Zählen.
Die Ursache liegt in der Zukunft, wir sagten es jüngst, sagten es mehr uns als Ihnen. Dahin nämlich ist zu tun.
Nun reimt sich nun auf tun, und so täte es nun gut, das Wort Merz eigentlich in Ungnade zu rehabilitieren, jetzt gerade, wenn es nicht eigentlich schon tunlichst in den letzten, na sagen wir, 6 Jahren hätte sein sollen, wir arbeiten ja seit vieren daran, wenn auch erst seit jetzt gerade buchstäblich. Merz kommt bekanntlich von der Commerzbank. Auch Merz kommt ja bekanntlich von der Commerzbank.
[1] als wäre das noch nötig zu markieren, Sie sollten das doch längst wissen, dass das gelesene Wort hochlebt, dreimal
Unsere Grammatik. Leitlinien zur Deutsch-Walisischen Vergegnung.
Grammatik ist Gegend.
Gegend ist ... (Tipp 1: Heidegger verlesen; Tipp 2: Schlingensief: "Der Blick in ein Gesicht, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend. Freund, Freund, Freund")
Auf freundschaftliche Anfragen reagieren wir stets nachkommend, daher: Bedürfnis nach den Originaldateien? Schreiben Sie uns. Schreib uns.